Heimatkinder Staffel 3 – Heimatroman. Kathrin SingerЧитать онлайн книгу.
vermutet, Korbinian kam noch vor Einbruch der Dunkelheit mit der Schneefräse, um den frischgefallenen Schnee wegzuräumen. Als er den Steig gesäubert hatte und auf den Hof fuhr, wunderte er sich, dass Stepherl noch nicht aus dem Haus gekommen war. Für den Kleinen war es sonst immer wie ein Wunder, wenn der Schnee von der Fräse hochgewirbelt wurde. Aber auch Franzi kam nicht heraus. Alles kam ihm so unheimlich still vor, und er beeilte sich, ins Haus zu kommen.
Im Flur kam ihm Franzi entgegen. Sofort sah er ihre verweinten Augen. Er legte den Arm um sie und fragte: »Was ist geschehen, Franzi?«
»Er hat uns den Buben weggeholt.« Schon brach Franzi wieder in Tränen aus. Sie drückte sich ganz fest an Korbinians Brust, und er spürte, dass sie zitterte.
»Komm mit in die Wohnstube«, bat er, »du bist ja gar nicht wiederzuerkennen.« Er schüttelte den Kopf. »Den Buben weggeholt? Das kann ich nicht verstehen.« Er drückte Franzi in einen Sessel und blieb neben ihr stehen, den Arm um ihre Schultern gelegt.
Josef Feistauer übernahm es, Korbinian zu erklären, was sich vor seinem Kommen hier abgespielt hatte. »Wir konnten nichts dagegen tun, Korbinian. Ja, wir waren vollkommen hilflos.« Wie schon vorher ballte er die Hände wieder zu Fäusten. »Das Dirndl wird damit niemals fertig werden.«
Korbinian strich Franzi immer wieder übers Haar, dann über die weichen Wangen. »Dass ich dir nicht helfen kann«, stöhnte er, und sein Gesicht zeigte deutlich, wie verzweifelt er war.
»Wer weiß, ob er Stepherl heil auf die Schutzhütte bringt. Bei dem Schnee, Korbinian, und dieser Wurzinger ist so unmenschlich, ein Teufel in Menschengestalt. Ja, das ist er.« Franzi trocknete sich die Tränen ab. »Alles wollte ich für den Buben tun, und jetzt muss ich ihn so gehen lassen. Das werd’ ich nie vergessen können.«
»Du wirst wieder ruhiger werden«, tröstete Korbinian, doch er spürte, dass das banale Worte waren. Schon fühlte er sich genauso hilflos wie Franzi und ihr Vater.
Franzi schluchzte auf. »Im Frühjahr wollten wir heiraten und Stepherl mit auf deinen Hof nehmen. Wie schön hätte er’s dort gehabt. Und jetzt? Bei seiner Mutter hatte er schon keine guten Zeiten, wie wird’s erst bei dem grantigen Mann sein, der das Wort Großvater nicht verdient? Hier, mein Vater, das war der Großvater für Stepherl, und so hätt’s bleiben sollen.«
Korbinian hatte sich gesetzt. Er zog seinen Sessel an Franzis heran und hielt ihre Hände fest, als wolle er sie wärmen. »Du musst realistisch bleiben«, sagte er. »Selbst wenn dir die Pflegschaft schon zugesprochen wäre, der alte Wurzinger hätt’ mehr Rechte als du auf den Buben. Ich kann nur nicht verstehen, dass er ihn jetzt auf einmal haben will, wo er doch vorher vollkommen überflüssig war.«
Josef Feistauer mischte sich ein. »Ich glaub’, dass ich dahintergekommen bin. Der Wurzinger wusste, dass Stepherl geerbt hat. Davon wird er sich etwas unter den Nagel reißen wollen. So gesehen ist es ein Unglück, dass dein Vater den Buben bedacht hat.«
»Das will mir nicht in den Kopf.« Korbinian wirkte sehr nachdenklich. »Das Geld ist doch mündelsicher angelegt. Da kommt der Wurzinger nicht ran.«
Josef Feistauer seufzte. »Was wissen wir von Leuten, die wie der Wurzinger sind? Der wird sich schon einen Weg ausgedacht haben, um an das Geld zu kommen. Auf jeden Fall aber wäre Stepherls Mutter die Erbin, wenn dem Buben einmal etwas zustoßen sollte. Und damit hätt’ der Wurzinger sein Ziel dann erreicht. Anders kann es nicht sein. Einer guten Tat ist er bestimmt nicht fähig. Franzi hat recht, mir kommt er auch vor, als hätt’ er den Teufel im Leib sitzen.«
Franzi hatte sich zurückgelehnt und sah ihren Vater entsetzt an. »So darfst net reden, Vater. Da muss ich ja fürchten, dass man den Buben da droben ein Leid antut, dass man ihn aus der Welt schafft wegen schäbigem Geld.«
Josef Feistauer sah betroffen drein. »Hast recht, Dirndl, so hätt’ ich nicht reden dürfen. Ich werd’s nicht mehr tun.«
Korbinian sah ein, dass jetzt alles falsch war, was man sagte. Er unterließ es, zu spekulieren, warum der alte Wurzinger den Stepherl geholt hatte, und versuchte stattdessen, Franzi sein Verständnis und seine Liebe zu zeigen. Er spürte, wie nötig sie das brauchte. Und sie war ihm dankbar, dass er gerade in diesen schweren Stunden bei ihr war. Als er ging, versprach er, so oft wie möglich bei ihr hereinzuschauen.
*
Der alte Wurzinger hatte Glück auf seinem Weg mit Stepherl. Zuerst war er mit dem Rodel aus dem Rehwinkel heruntergekommen, dann fand er einen gepflügten Weg vor, sodass er mit dem Jungen in keine Schneewehe geriet. Stepherl war mehr neben ihm hergestolpert, als dass er hätte richtig gehen können. An der jetzt stillgelegten Sennhütte vorbei, als es steiler bergauf ging, konnte er nicht mehr mithalten. Da packte ihn der Wurzinger auf den Rücken. So groß und stark wie er war, machte ihm diese Last nichts aus.
In der Schutzhütte brachte er Stepherl gleich zu der alten Zenza.
»So, um den Bub wirst du dich gefälligst kümmern, er soll auch
in deiner Kammer schlafen«, herrschte er sie an. »Ich will so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben. Hast du verstanden?«
Die Alte sah ihn so untertänig wie immer an. »Ja, ja, schon, Wurzinger, aber was soll ich den ganzen Tag mit dem Buben anfangen? Ich bin keine Kindermagd und weiß mir hier vor Arbeit schon lange kaum mehr Rat.«
»Lass ihn laufen, bring ihn oft hinaus, auch wenn’s kalt ist. Er muss sich abhärten. Und dass du ihm ja keine guten Brocken zusteckst. Es wird ihm nicht schaden, wenn er manchmal Hunger hat.« Jetzt blickte der Wurzinger listig drein. Er gab Zenza einen derben Stoß und lachte boshaft. »Der Bub muss nicht so alt werden wie du.«
Zenza schlug ein Kreuz. »Wurzinger, versündig dich nicht schon wieder. Das eine langt.«
»Halt’s Maul«, fuhr er sie an. »Lass dir ja nicht einfallen, zu jemandem davon zu reden. Dann würdest du mich nämlich kennenlernen.«
»Ist schon gut, ist schon gut«, jammerte Zenza, und die Angst stand ihr in den Augen. Sie fasste schnell nach Stepherls Hand. »Komm mit, in meiner Kammer steht noch ein Bett, da kannst du schlafen. Schaust eh aus, als würdest du gleich umfallen.«
Stepherl war so müde und erschöpft, dass er wortlos mitging. Anscheinend konnte er jetzt nicht mehr weinen. Zu unfassbar war für den Knirps, was geschehen war.
Zenza zog ihm nur den Anorak und die Stiefel aus, dann schubste sie ihn ins Bett.
Er schlief gleich ein. Sie warf noch einen letzten Blick auf ihn und flüsterte:
»Bub, du bist schon wieder übrig auf der Welt, dem Herrgott sei’s geklagt, aber der wird sich deiner auch nicht erbarmen. Der Stärkste ist der Wurzinger.«
*
Am nächsten Tag kam Nani in die Schutzhütte. Sie wusste, dass ihr Vater den Jungen hatte holen wollen. Die Erbschaft war auch für sie Grund genug, Stepherl wieder aufzunehmen.
Der Wurzinger tätschelte ihre Wange. »Was sagst jetzt, Madl? Dein Vater tut immer das Richtige. Was meinst, wie die sich im Rehwinkel angestellt haben? Sie wollten den Bub nicht hergeben.« Jetzt stieß er wieder einen seiner boshaften Lacher aus. »Vernarrt sind sie in den Buben, verzogen werden sie ihn haben, aber das werd’ ich ihm austreiben. Bei uns spielt eine andere Musik. Freilich ärgerlich, ist’s schon, dass ich mich um alles kümmern muss. Du hast den Mann bekommen, den du haben wolltest und kannst es dir gut gehen lassen, ich hab’ die Scherereien mit diesem Balg.«
Nani hörte gar nicht darauf, sie fragte: »Wo ist er?«
»Wird wohl bei der Zenza sein. Die macht heut’ die Fremdenzimmer sauber. Manchmal wünsch’ ich sie zum Teufel. Alles geht ihr zu langsam von der Hand, aber kann ich sie wegschicken? Die verrät doch glatt, dass ich …«
Nani unterbrach ihren Vater. »Ich bitt’ dich, red nicht davon.« Sie sah sich gehetzt um, dann lief sie hinauf zu den Fremdenzimmern. Dort fand sie zwar Zenza, aber nicht Stepherl.
Die Alte zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, wo er ist. Ich hab’ keine Zeit, mich um ihn