Om mani padme hum. Wilhelm FilchnerЧитать онлайн книгу.
der beiden auf der schmalen Plattform angelangt, gerade habe ich den Kutschern zugerufen, sie sollen Steine hinter die Räder legen, um ein Abrollen zu vermeiden, da sehe ich, wie Iwans Wagen, der mit den unersetzlichen Instrumenten, sich langsam in Bewegung setzt und auf dem zum See abfallenden Nordhang ins Rutschen kommt!
Der Atem stockt mir. Iwan wirft sich jammernd zu Boden, bekreuzigt sich und heult. Der Wagen aber, der jetzt ein ungeheures Tempo erreicht, schießt mit den wildgewordenen drei Pferden an der Deichsel in wahnsinniger Fahrt talwärts – über einen kurzen Sattel hinweg, einer kleinen Kappe zu, hinter der es keine Rettung mehr gibt.
Die verzweifelten Pferde versuchen beizudrehen. Doch vergebens, ihre Kraft reicht nicht aus, den Wagen aus seiner Bahn zu bringen, geschweige denn abzubremsen. Nur noch Sekunden, dann ist das Unglück geschehen! ...
Ich schließe instinktiv die Augen, um dieser Katastrophe nicht machtlos zuschauen zu müssen.
Machtlos – Katastrophe! Diese beiden Gedanken schießen durch mein Hirn. Denn hier ist alles verloren. Die Pferde tot, der Wagen zerschellt und all die kostbaren Instrumente zerschlagen! Die Expedition schon an ihrem Anfang gescheitert, an ein Weiterreisen ohne Instrumente nicht zu denken ...
Iwan, ein Bild des Jammers, heult und beteuert seine Unschuld, aber ich treibe ihn an, mitzukommen. So laufen wir, so rasch unsere Füße uns tragen, der Unglücksstelle zu, die unseren Blicken verborgen ist.
Trümmer und zuckende Glieder erwarten wir zu finden. Doch, was sehen wir?
Hinter dem Abhang, kurz vor dem tiefen Absturz zum vereisten See, hat sich ein 60 Meter breites, anderthalb Meter tiefes Schneeband gebildet – und dahinein sind Wagen und Pferde gerast!
Immerhin müssen die Tiere schwer verwundet, wenn nicht gar tot, und die Instrumente beschädigt sein!? Aber noch einmal haben wir ungeheures Glück. Zwar ragen nur noch die Köpfe der Pferde aus dem Schnee, und der Wagen liegt ganz auf der Seite, die Tiere bluten aus den Mäulern, vom Wagen ist fast nichts zu sehen; aber, gottlob, es gelingt uns, nach stundenlanger, mühevoller Arbeit die Pferde auszugraben und ohne schwere Verletzungen zu bergen.
Dann machen wir uns an den Wagen, der ganz zerlegt und Stück für Stück herausgeschaufelt werden muss.
Beick und ich schuften aus Leibeskräften, der Chinese Joseph bedient die Pferde; nur Iwan hindert uns an der Rettungsaktion, indem er ständig heulend meine Knie umklammert und meine Hände küssen will.
Ein paar kräftige Ohrfeigen, die Joseph ihm verabreicht, kühlen sein Temperament etwas ab und bringen ihn langsam zur Vernunft. Joseph ist’s dann auch, der einige Bretter aus dem Tempelchen holt, mit denen wir ein notdürftiges Lagerfeuer anzünden. Aber die erstarrten Glieder werden an diesem Tag nicht mehr warm.
Meine einzige Sorge gilt nun den Instrumenten. Der Filmapparat ist herausgefallen, auf einen Felsen aufgeschlagen und – nicht beschädigt! Noch viel besser erging es den andern Instrumenten: Der tiefe und weiche Schneepuffer hatte verhütet, dass etwas Ernstliches geschah.
Vor Dankbarkeit meinem gütigen Geschick gegenüber kann ich in dieser Nacht kein Auge schließen. Allerdings hätte ich auch so nicht schlafen können, weil wir keine wärmenden Decken mithaben und nun wie die Hunde frieren müssen.
Während der letzten Wochen ist Schnee gefallen. Der dämmernde Tag bringt Tauwetter. Der Weg wird so glatt und schlüpfrig, dass wir Mühe haben, die Wagen in die Ebene des Sairam-Sees hinabzubefördern, nach der kleinen chinesischen Siedlung San-tai am Fuß der von dem mächtigen Bergmassiv Tuchumtu gegen den See vorgetriebenen Schuttterrasse. Dort schließt ein Schmied die vielen Wunden des Wagens.
Kurz vor San-tai gehen die Pferde Iwans nochmals durch, und um ein Haar wäre der Instrumentenwagen den Steinhang hinab in den See gestürzt.
Infolge der schlechten Erfahrungen mit Iwan muss ich mich entschließen, von jetzt ab den Instrumentenwagen selbst zu kutschieren. So setzen wir vier Tage später, nachdem ich inzwischen meine ersten astronomischen und magnetischen Messungen beendet habe, den Weitermarsch programmgemäß ostwärts fort.
An einem der folgenden Abende untersuche ich Filmapparat und Kassetten auf Schäden. Gottlob, alles in Ordnung!
Neben uns lagert eine große Pferde- und Lastwagenkarawane. Die Wagen sind in Kralform aufgefahren. In der Mitte sind die Pferde und die Personenwagen geborgen. Es ist die gute alte Wagenburg, wie schon die alten Germanen sie »bauten«.
Der Weitermarsch vollzieht sich in staubgefüllter Luft über vollkommen unfruchtbares Gelände. Es geht über die niedrige Wasserscheide zwischen Sairam-nor und Ebi-nor. Hier läuft die Westgrenze der Dsungarei durch.
Der Abstieg im verwitterten Felshügelgelände führt in ein baum-, strauch-, wasser- und menschenloses Labyrinth. Antilopen in großer Zahl. Später öffnet sich das Tal, öde und kahl, ohne Wasser; es weitet sich immer mehr zu einem gewaltigen Talbecken, in dessen Mitte das chinesische Piket Sui-tai liegt.
Das Vorankommen wird langsam beschwerlich. Der Leiterwagen, den ich lenke, ist voll bepackt. Bremsvorrichtung hat er nicht, was sich bei der Talfahrt unangenehm bemerkbar macht.
Zudem werden die zwei bis drei Pferde, die sich damit abmühen, den Wagen vorwärts zu bewegen, zum ersten Mal in ihrem Leben als Zugtiere verwendet. Sie haben eine fanatische Neigung, die Deichsel zu zerschlagen, die sie nicht gewohnt sind. Und öfter gehen sie durch, ohne zu sagen, wohin.
Und diese schrecklichen Wege in Asien mit ihrer unbezwinglichen Vorliebe für ausgesprochene Gegensätze, bald Steigung, bald Gefälle, mit ihren Löchern und Unebenheiten, die schon Fußgängern Beschwerden bereiten! Außerdem absolviere ich ja auf dieser mehrere Tausend Kilometer langen Reise meine »Jungfernfahrt« als Kutscher ...
Dabei müssen wir täglich 50 bis 90 Li, also 30 bis 40 Kilometer, hinter uns bringen. Morgens in aller Herrgottsfrühe brechen wir auf und müssen sorgen, dass wir schon am Nachmittag unser Ziel erreichen, damit ich noch bei Tageslicht meine Messungen durchführen kann.
Während die Diener für Wagen, Pferde, Unterkunft und Verpflegung sorgen, laden Beick und ich die Geräte ab, stellen die astronomischen Instrumente auf, und dann beginne ich mit den Sonnenmessungen. Ist der Himmel bewölkt, bleiben mir oft nur wenige Minuten. Dieses Arbeiten unter Druck nach langem, anstrengendem Marsch ist nervenaufreibend. Nicht zuletzt auch deshalb, weil hier in Sinkiang die ganze Bevölkerung meinen wissenschaftlichen Messungen mit dem größten Misstrauen begegnet. Sobald sie die Instrumente sehen, kommen sie herbeigelaufen, stellen sich ringsherum, als wäre ein Degenschlucker angerückt, und beobachten genau, was ich anstelle. Alle glauben sie, ich sei aus Russland gekommen, um ihr Land zu vermessen, damit die feindlichen Heere später über gute Karten verfügen.
Zu allem Überfluss erscheinen auch noch die bildungshungrigen höheren und höchsten Beamten. Sie stellen die unmöglichsten und überflüssigsten Fragen, die man, nur um Ruhe zu haben, beantworten muss.
Natürlich erzähle ich ihnen nicht alles, was sie wissen wollen. Sonst wäre ich heute noch nicht zurückgekehrt. Aber einiges muss ich schon auspacken. – Und das soll nun auch, kurz gefasst, hier im Bericht geschehen, dem ich dabei freilich verschiedentlich werde vorgreifen müssen.
In erster Linie hatte ich mir vorgenommen, neben den völkerkundlichen und kulturpolitischen Beobachtungen vor allem astronomisch-erdmagnetische Messungen auszuführen, gleichzeitig aber auch die bisher unbekannten Strecken kartographisch aufzunehmen und sämtliche Lagerplätze und markanten geographischen Punkte der Höhe nach festzulegen.
Meine astronomisch-erdmagnetischen Messungen dienten dazu, das europäisch-westasiatische magnetische Triangulationsnetz an das chinesische und dieses wiederum an das indische anzuschließen.
Dabei waren die südöstlichsten Vermessungspunkte des europäisch-westasiatischen Netzes in jenem Erdbebengebiet zu suchen, das ich früher geschildert habe. Die nordwestlichsten Vermessungspunkte des chinesischen Netzes lagen an der chinesisch-tibetischen Grenze, am Westrand der chinesischen Provinz Kansu, in der Nähe des Kuku-nor. Das indische Netz umfasst außer einigen Punkten in Kaschmir ganz Indien südlich des Himalajas.
Diese