Om mani padme hum. Wilhelm FilchnerЧитать онлайн книгу.
sich in Kansu hauptsächlich innerhalb der großen Chinesischen Mauer angesiedelt haben, bilden den Hauptteil der Bevölkerung. Die chinesische Regierung hat von jeher den allergrößten Wert darauf gelegt, Kansu fest in der Hand zu behalten.
Kansu wird von ihr nicht nur als die Wiege des chinesischen Reiches betrachtet, sondern auch als wichtige Ausfallspforte nach dem Westen, entlang der uralten Seidenstraße. Ein Verlust Kansus wäre für die chinesische Regierung gleichbedeutend mit dem Aufgeben aller westlich des alten eigentlichen Reichs gelegenen Riesengebiete, die noch heute geographisch zu China gehören.
Kansu war seinerzeit die Operationsbasis des sowjetfreundlichen chinesischen Marschalls Feng-Yu-Hsiang, der während der Hochblüte des Bolschewismus eine Verbindung mit den Sowjetrepubliken via Sinkiang anstrebte. Der Generalgouverneur von Sinkiang vereitelte jedoch dieses Programm, und so gerieten Kansu und Sinkiang in heftige Fehde.
Ungefähr auf halbem Weg zwischen Hami und An-hsi, im Herzen der Wüste Gobi, liegt, 1980 Meter ü. d. M. Schin-schin-schja, die Grenzfeste Sinkiangs, die den ersten Ansturm der Kansu-Truppen aufhalten sollte. Die niedrigen Kasernenbauten sind in einem engen Pass untergebracht, und schon von ferne hört der Fremde die Trompetensignale der einige Hundert Mann starken Garnison.
Ein eigenes Telegraphenamt verband Schin-schin-schja und Sinkiang. Telegramme nach Sinkiang waren der Zensur unterworfen. Auf den Höhen ringsum waren Befestigungen angelegt. Die Soldaten schienen an diesem »Wüstenkrieg« wenig Freude zu haben. Täglich desertierten viele aus der Grenzgarnison und versuchten, nach Hami zu entkommen. Ich war selbst Zeuge, als ein paar Dutzend Soldaten von einer Höhe aus einigen Kameraden, die sich gerade hamiwärts empfehlen wollten, gute Wünsche nachriefen. Die Desertion selbst scheint sich sehr friedlich abzuspielen. Ein Unteroffizier trieb die Fahnenflüchtigen sogar zu Umsicht und Eile an, da man sie sonst wieder einfangen werde!
Viele dieser Flüchtlinge erreichen ihr Ziel überhaupt nicht. Der Marsch durch die Wüste bedeutet für jeden Unkundigen den sicheren Tod. Der Wanderer bricht meist auf den großen Etappen von einem Wasserplatz zum anderen zusammen und findet sein Grab im ewigen Sand! Auf unseren Wüstenmärschen trafen wir manchen Flüchtling am Weg, der infolge Ermüdung, Hunger und Durst mit dem Tod rang.
Es begegneten uns hier aber auch Auswanderer aus Kansu, die nach dem billigeren Sinkiang übersiedeln wollten. Sie erzählten uns, dass sie der Armut entfliehen wollten. Meist handelte es sich um Ackerbauern, die derart mit Steuern belastet waren, dass sie nur zu gern den heimischen Herd mit einer ungewissen Zukunft vertauschten. Vieh, Pferde und Mobiliar hatten sie verkauft; einige hatten sogar ihre Töchter verschachert, um Zehrpfennige für die große Reise zu haben. Ihre Armut war dennoch trostlos. Manche von ihnen schleppten kleine Kinder auf dem Rücken mit, während die »Reichen« unter diesen Armen wenigstens noch über einen Esel verfügten, der zuweilen zu beiden Seiten kleine Kästen trug, aus denen harmlose Kindergesichter herausschauten. Die Kleinen wussten noch nichts von dem Lebenskampf, in den sie hineinwuchsen.
Mitten in der Wüste begegneten uns diese Trupps, durchweg zerlumpt, mit schweren Lasten bepackt, bei jedem Schritt bis über die Knöchel im Sand versinkend. Meist mussten sich die armen Frauen totschleppen; der Mann, der Herr, trug höchstens ein Wassergeschirr!
Die Leiden und Mühsale der Flüchtlinge sind ganz ungeheuer. Nur der von Jugend auf an die schwersten Entbehrungen gewöhnte Körper vermag solche Qualen zu überwinden, die uns Europäern unfassbar erscheinen.
Der Kommandant von Schin-schin-schja hatte befohlen, die wehrhaften, kräftigen Männer unter den Flüchtlingen auszumustern, sie in Uniformen zu stecken und der Grenzgarnison zuzuweisen. Das war die größte Enttäuschung für die Familienväter, die ihre Heimat doch einzig in der Hoffnung verlassen hatten, den Lasten in Kansu zu entfliehen und ihr kümmerliches Dasein unter günstigeren Lebensbedingungen in Sinkiang fristen zu können.
Um der Gerechtigkeit willen möchte ich aber doch betonen, dass der Generalgouverneur in Tihwa Maßnahmen getroffen hatte, alle die Flüchtlingsscharen, die von Kansu herbeiströmten, zielbewusst und planmäßig im Westen Sinkiangs und in der Gegend von Tihwa anzusiedeln. Die Abwanderer von Kansu stellen im Allgemeinen ein sehr übles Pack dar. Der bessere Teil der Leute bleibt meist schon im Nordwesten von Kansu hängen, also in den großen Städten zwischen Liang-tschou und An-hsi.
Es bedarf kaum des Hinweises, dass die Soldateska in Schin-schin-schja, die zum großen Teil aus solchen Verzweifelten besteht, keine Zierde dieser Garnison ist. Der Anblick jener Enterbten war oft grauenerregend. Sie waren von allem entblößt; jede Lebensfreude war ihnen verkümmert. Die größte Erbitterung herrschte über die unerschwinglich hohe Opiumsteuer, die auch jene hatten zahlen müssen, die niemals Opium angebaut hatten. So gab es nur einen Weg – die Flucht!
Und alle wollten sie nach Ili ziehen, dem gelobten Land, da Milch und Honig fließt. Doch Ili war weit. Wem es jedoch gelang, das Land der Hoffnung zu erreichen, der war gut aufgehoben. Denn Ili ist reich und das Leben dort billig, der Boden außerordentlich fruchtbar.
Aber was mussten diese Flüchtlinge ertragen haben, wenn schon wir, die wir mit zwei Leiterwagen fahren konnten, unter den klimatischen Unbilden und der Trostlosigkeit der Wüste zu leiden hatten! Die Sonne sandte sengende Strahlen vom Himmel, aber der kühle Wüstenwind gebärdete sich als ein weit ärgerer Feind; denn er peitschte feinen Sand und Staub auf Hände und Gesicht, wo sie wie Millionen Nadelstiche wirkten. Auch die Schneebrillen boten kaum noch Schutz. Jetzt wurde die Durchführung der Messungen zur Qual, besonders auch deshalb, weil der feine Sandstaub sogar durch die beste Verpackung Einlass fand und die Instrumente daher zu allem Überfluss täglich gereinigt werden mussten. Dabei litten wir wirklich keinen Mangel an Pflichten und Arbeit!
Ein überwältigend-schauerliches Bild bieten die Wüstengewitter. Sie brechen so plötzlich herein, dass niemand sich schützen kann. Was war zu tun? Wir stellten wegen des feuergefährlichen Filmmaterials die Wagen möglichst weit voneinander auf. Falls der Blitz einschlug, war so wenigstens nicht alles verloren.
Mit rasender Geschwindigkeit wälzten die tief herabhängenden dunklen Wolken heran, schwarz und tiefbraun getönt; Blitz um Blitz sauste hernieder und beleuchtete die trostlose Landschaft gespenstisch. Der Donner krachte wie schweres Geschützfeuer. Solche Wetter dauern in dieser Zone durchschnittlich eine Stunde lang; dann setzt prasselnd ein wolkenbruchartiger Regen ein. In wenigen Minuten hat er die dürre Sandwüste in einen großen zähen Sumpf verwandelt. Das Wasser sackt verhältnismäßig rasch ab, doch wird der Marsch mit den schwer beladenen Wagen noch viel mühseliger als vorher.
Mehrere Monate Wüstenleben hatten wir endlich hinter uns. Eines Morgens erblickten wir in der Ferne eine lockende Oase, dahinter ansteigende Berge ...
Das war An-hsi, 1300 Meter hoch gelegen, am Fuß der nördlichen Ausläufer des Richthofengebirges. Wie glücklich atmete ich auf, diesen Marsch bewältigt zu haben! Aber gleich bedrängte mich die bange Frage: Wie wird mich das offizielle Kansu aufnehmen? Ich komme doch aus Sinkiang, also direkt aus dem Lager des Feindes!
Mit gemischten Gefühlen ritt ich durch das Stadttor von Anhsi. Aber ich hatte wieder einmal Glück. Der höchste Mandarin war gerade verreist, und so ließ man mich nach Vorzeigen meines chinesischen Passes unbehelligt passieren.
Die nächste Stadt, Su-tschou, war bald erreicht. Sie liegt 280 Meter höher als An-hsi. Dort traf ich bereits einen Herrn der Steyler Mission, der mir von dem katholischen Bischof Buddenbrock aus Liang-tschou in liebenswürdiger Hilfsbereitschaft entgegengesandt war. Er sollte mir bei der Grenzüberschreitung in Kansu Weiterungen mit den Behörden und unnötigen Aufenthalt nach Möglichkeit ersparen. Das war ein großer Dienst. Es gab keinerlei Schwierigkeiten, und ich konnte jetzt meine wissenschaftlichen Messungen unter erheblich angenehmeren Umständen als bisher durchführen.
Die Wegeverhältnisse wurden aber schlechter, da gewaltige Geröllfelder überquert werden mussten; dazu trat die mit Rücksicht auf die empfindlichen Instrumente notwendige behutsame Fahrt. Beides brachte Zeitverlust.
In Kan-tschou (1560 Meter ü. d. M.), das der Provinz den Namen gibt, wurde ich von den chinesischen Behörden höflich aufgenommen und fand neben wohltuendem Verständnis für meine Arbeiten gastfreundliches Quartier in der katholischen Mission, die sich