Der kleine Fürst Staffel 6 – Adelsroman. Viola MaybachЧитать онлайн книгу.
Konstantin hatte richtig vermutet: Die Tatsache, dass sich der kleine Fürst persönlich nach Elise und Joseph Ogudu erkundigte und erklärte, die beiden würden auf Schloss Sternberg dringend erwartet, brachte Bewegung in die bis dahin festgefahrene Angelegenheit mit den afrikanischen Passagieren, deren Papiere seit Stunden überprüft wurden. Als sie zudem noch die Einladung nach Sternberg präsentierten, gab es keine Bedenken mehr, die beiden Kongolesen einreisen zu lassen.
Bettina eilte auf das junge Paar zu und umarmte zuerst Elise, dann Joseph. Sie raunte ihnen einige Informationen zu, bevor sie sie Konstantin und Christian vorstellte. Der kleine Fürst hieß sie in tadellosem Französisch in Deutschland willkommen, woraufhin Elise ihn liebevoll umarmte. Was ein deutscher Prinz war, vermochte sie sich nicht vorzustellen – und es war ihr wohl auch nicht wichtig.
Auch Konstantin begrüßte die Neuankömmlinge auf Französisch, das er allerdings nicht besonders gut beherrschte. Er stellte fest, dass Joseph etwa in seinem Alter war, Elise schien ihm einige Jahre jünger zu sein. Ihnen waren die Strapazen der letzten Wochen anzusehen, sie wirkten müde und erschöpft. Vielfältige Entbehrungen, Angst und Not hatten feine Linien in ihre Gesichter gegraben.
Er fragte, ob sie essen wollten, aber das lehnten sie ab.
»Sie brauchen Ruhe, das vor allem«, erklärte Bettina. »Am besten, wir fahren so schnell wie möglich zurück.«
Dieses Mal verlief die Fahrt nicht so schweigsam. Bettina saß hinten bei ihren Freunden, Christian und Konstantin konnten ihrer leise und schnell geführten Unterhaltung nicht folgen. Doch sie glaubten zu wissen, wonach Elise und Joseph sich so eindringlich erkundigten – oder besser gesagt: nach wem.
*
Anna war auf den Hügel am Rande des Sternberger Schlossparks gestiegen – hier lag der Familienfriedhof, hier hatten Christians Eltern ihre letzte Ruhe gefunden. Togo war bei ihr. Sonst begleitete er den kleinen Fürsten auf seinem Gang hierher – heute war es Anna ein Bedürfnis gewesen, ihn zu vertreten. Christian besuchte seine Eltern jeden Tag, er ›redete‹ in Gedanken mit ihnen über alles, was ihm wichtig erschien.
»Ihr werdet es nicht glauben«, begann Anna ihren stummen Bericht, »aber Chris ist nach Stuttgart gefahren, zum Flughafen, und ich bin ziemlich sicher, dass dort die Eltern der Zwillinge angekommen sind. Hat er euch davon erzählt? Noch nicht? Macht nichts, das kann ich ja jetzt nachholen.«
Sie ging in Gedanken die ganze lange Geschichte noch einmal durch und begriff mit einem Mal, warum der tägliche Besuch der fürstlichen Gruft für Christian so wichtig geworden war: Er hielt auf diese Weise nicht nur die Erinnerung an seine Eltern aufrecht, sondern er ordnete auch seine Gedanken. Sie war plötzlich ganz sicher, dass man an diesem Ort jedes Problem lösen konnte, wenn man nur lange genug blieb. Es war still hier und friedlich. Die Aussicht war atemberaubend schön, und die Anwesenheit der Toten wirkte seltsam tröstlich und nicht etwa, wie man vielleicht hätte meinen können, beängstigend.
»Ich war zuerst ziemlich sauer«, beendete Anna ihren inneren Monolog, »weil Chris mich nicht geweckt hat, damit ich auch mitfahren kann – aber jetzt finde ich es gut. So konnte ich Mama und Papa sagen, was wir glauben. Sie sind jetzt also vorbereitet und können deshalb mit Elise und Joseph bestimmt viel besser umgehen. Findet ihr das nicht auch gut?«
Anna sah sich um, als müsste ihr von irgendwoher eine Stimme antworten, aber nichts geschah. Das fand sie ein wenig enttäuschend. »Ich gehe jetzt wieder – ich wollte euch nur sagen, dass Chris unterwegs ist und euch heute erst etwas später besuchen wird. Tschüss.« Laut sagte sie: »Komm, Togo.«
Der Hund war bereits auf den Beinen und rannte den Weg hinunter in den Park, wo er gleich darauf nicht mehr zu sehen war. Anna folgte ihm langsamer. Sie ging an anderen Grabsteinen vorüber und drehte sich dann noch einmal um. Sonnenflecken waren auf der Gruft zu sehen, die von einem dichten Blätterdach beschützt wurde. Ein Eichhörnchen kam näher, betrachtete Anna neugierig und flitzte dann am Stamm einer dicken Eiche hinauf. Im nächsten Moment schon saß es auf einem Ast direkt über Annas Kopf und äugte auf sie herunter.
Anna lächelte. Christian hatte ihr schon oft erzählt, dass seine Eltern ihm Zeichen sandten, damit er wusste: Sie hatten ihn gehört. Das Eichhörnchen war ganz gewiss ein solches Zeichen.
Sie hörte das leise Brummen eines Autos. Sie beschirmte die Augen mit einer Hand und spähte zur langen Auffahrt hinüber. Da kamen sie!
Nun hatte sie es eilig. Sie rannte los, denn verpasst hatte sie an diesem Tag wahrhaftig schon genug.
*
»Frau Baronin, Herr Baron, der Wagen von Herrn von Klawen nähert sich«, sagte Eberhard Hagedorn.
»Danke, Herr Hagedorn.« Sofia nahm Miriam auf den Arm, Friedrich schnappte sich den kleinen Paul, und dann eilten sie zum Hauptportal, um ihre Gäste gebührend zu empfangen. Sie riefen nach Konrad, doch er antwortete nicht.
Konstantin und Christian sprangen zuerst aus dem Wagen, ihnen folgten Bettina und dann, langsam und zögernd, die beiden afrikanischen Gäste, Elise und Joseph. Die Augen der jungen Frau weiteten sich, als sie Sofia und Friedrich mit den Babys auf dem Arm sah. »Mes petits«, rief sie, »meine Kleinen!« Sie schwankte, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ihr Mann stützte sie, auch er war sichtlich gerührt. Dann stürzten sie vorwärts.
Was nun folgte, sollte keiner, der es miterlebte, jemals wieder vergessen. Elise und Joseph herzten und küssten die Kinder, drückten sie an sich, weinten und lachten und konnten es kaum fassen, dass die Zeit der Angst und Not tatsächlich vorüber war. Nach einer Weile drehten sie sich zu Bettina um und streckten die Arme nach ihr aus. In einem Gemisch aus Englisch, Französisch und ein paar Brocken Deutsch erklärten sie, dass Bettina ein Engel sei, der sie und ihre Kinder gerettet habe.
»Nun wisst ihr’s«, sagte Bettina verlegen. »Die Zwillinge sind nicht meine Kinder, ich habe sie nur als meine ausgegeben, damit es keine Schwierigkeiten gibt, bis auch Elise und Joseph in Sicherheit sind. Ich hätte es euch natürlich sagen können, aber je weniger Mitwisser, desto weniger Gefahr, so lautet die Regel, und daran habe ich mich gehalten. Entschuldigt bitte.«
»Das wussten wir doch längst, Tina!«, erklärte der kleine Fürst.
»Wie bitte?«
»Wir sind schließlich nicht blöd«, setzte Anna hinzu.
»Na ja, ein bisschen schon«, meinte die Baronin. »Fritz und ich, wir haben dir bis heute Morgen geglaubt, Bettina.«
»Ich habe Ihnen auch geglaubt«, erklärte Konstantin. »Bis gestern, da hat Chris uns erläutert, dass Ihre Geschichte eigentlich überhaupt nicht stimmen kann.«
»Schluss jetzt!«, rief die Baronin. »Kommt herein, unsere Gäste sind müde und erschöpft. Für Erklärungen ist hinterher noch genügend Zeit.«
Wieder einmal verblüffte Eberhard Hagedorn seine Arbeitgeber. In geschliffenem Französisch bat er die Gäste herein und führte sie in die schönste und größte Gästesuite, die Schloss Sternberg zu bieten hatte.
An diesem Abend war Marie-Luise Falkner in ihrem Element. Dem neuen Herd wurde alles abverlangt, und sie schaffte es, ein Menü auf den Tisch zu bringen, dem sie afrikanische Akzente beimischte. Das Lob fiel überschwänglich aus. Für den Höhepunkt des Abends sorgte dann allerdings Miriam, die ihre Mutter in die Nase kniff und dabei von ihrem üblichen ›dadada‹ abwich und fröhlich: »Mama!« sagte – sie sprach es französisch aus, mit einem kleinen deutschen Akzent.
Elise kamen erneut die Tränen.
*
»Sie haben es also gewusst«, stellte Bettina fest, als Konstantin ihr später auf die Terrasse folgte. Die Tischgesellschaft löste sich allmählich auf.
»Wie gesagt, erst seit gestern«, erklärte er bedauernd. »Ich wünschte, ich hätte es schon vorher gewusst, das hätte mir Kummer erspart.«
»Kummer?«, fragte sie.
»Ja – ich war unglücklich, weil Sie