Schopenhauer. Kuno FischerЧитать онлайн книгу.
wurde er ein genialer Denker und Schriftsteller.
Drittes Kapitel
Der dritte Abschnitt der Jugendgeschichte. Neue Werke und neue Wanderjahre (1814 – 1820)
I. Der Dresdner Aufenthalt
1. Glückliche Jahre
Unter den deutschen Städten, die er noch am Schluss jener großen Reise gesehen hatte, war ihm Dresden in guter Erinnerung geblieben. Jetzt wählte er diesen Ort zu einem mehrjährigen Aufenthalt (vom Mai 1814 bis in den September 1818), um hier in voller Muße seine Ideen auszuarbeiten, systematisch zu ordnen und darzustellen. Nach seiner eigenen Aussage war er schon während des Jahres 1814 mit den Grundgedanken ins Reine gekommen, aber die Ausführung des Hauptwerkes geschah erst in der Zeit vom März 1817 bis in den März 1818. Andere Arbeiten waren dazwischengetreten.
Es war eine glückliche, schaffensfreudige Zeit, die er hier in Dresden verlebte: voller Ideen und Arbeitsdrang, in frohem Erstaunen über die Entstehung und Geburt seines Werkes, gehoben von den sichersten Hoffnungen künftigen Ruhmes. Er sah seine Schöpfung vor sich aufsteigen, »wie aus dem Morgennebel eine schöne Landschaft«. Sein Lebensbaum stand in voller Blüte und die Früchte reiften schnell. Als er einmal an einem Frühlingsmorgen, mit Blüten bedeckt, aus dem Zwinger heimkehrte, rief ihm die Hauswirtin zu: ,,Sie blühen, Herr Doktor!« »Jawohl«, erwiderte er, »die Bäume müssen blühen, wenn sie Frucht tragen sollen!«
Im Kreise ästhetischer und belletristischer Schriftsteller, die ihn »Jupiter tonans« nannten, da er im Ausdruck seiner Affekte zu donnern und zu blitzen verstand, fand er nach angestrengter Geistesarbeit gesellige Zerstreuung; und die Ausflüge, die er in die benachbarten Gegenden unternahm, im Sommer 1817 nach Teplitz, im nächsten Sommer in die Sächsische Schweiz, gewährten ihm angenehme Erholung. Unter jenen Dresdner Freunden befand sich der Kunstkenner Joh. Gottlob von Quandt, der bis ans Ende einer seiner treuesten Freunde geblieben und noch zuletzt auch ein enthusiastischer Anhänger seiner Lehre geworden ist.138
Hier in Dresden lernte ihn der Freiherr von Biedenfeld kennen und wurde im Fortgang des persönlichen Verkehrs von soviel Interesse und Bewunderung für den Philosophen und sein Werk erfüllt, dass er dem Buchhändler Brockhaus dringend riet, dieses Werk zu verlegen. Noch vierzig Jahre später hat er im Stuttgarter »Morgenblatt« den Schopenhauer der Dresdner Jahre ad vivum geschildert. »Als Sohn der hochbegabten Johanna Schopenhauer, völlig unabhängig durch ein hübsches Vermögen und früh in philosophisches Studium vertieft, hatte Arthur schon vor seiner Ankunft in Dresden sehr reiche Bekanntschaft mit dem geselligen Leben in verschiedenen Gegenden Deutschlands gemacht, ohne seinen Eigentümlichkeiten im mindesten zu entsagen, noch in die Schwächen anderer sich geduldig zu fügen. In dieser Hinsicht war er unverkennbar ein wenig enfant gâté, von offenherzigster Ehrlichkeit, geradeheraus, herb und derb, bei allen wissenschaftlichen und literarischen Fragen ungemein entschieden und fest, Freund und Feind gegenüber jedes Ding bei seinem rechten Namen nennend, dem Witze sehr hold, oft ein wahrhaft humoristischer Grobian, wobei nicht selten der Blondkopf mit den blaugrau funkelnden Augen, der langen Wangenfalte auf jeder Seite der Nase, der etwas gellenden Stimme und den kurzen heftigen Gestikulationen mit den Händen ein gar grimmiges Aussehen gewann. Mit seinen Büchern und Studien lebte er fast gänzlich isoliert und ziemlich einförmig, suchte keine Freundschaft, schloss sich auch niemandem besonders an, sah sich aber bei seinen weiten und großen Spaziergängen gern begleitet, unterhielt sich dabei sehr lebhaft über einzelne literarische Vorkommenheiten, wissenschaftliche Gegenstände, hervorragende Geister, besonders gern über Drama und Theater. Wer ihn liebenswürdig, anziehend, belehrend haben wollte, der musste mit ihm allein spazieren gehen. Mir wurde dieser Genuss oft zuteil, und dieser Umstand erwarb mir sein Wohlwollen, womit er mich noch jetzt erfreut. So galt er allgemein für einen Sonderling und war es auch gewissermaßen wirklich. Obschon entschiedener Gegner jenes Abendzeitungs-, Almanachs- und Liederkranzwesens, der sämtlichen Teilnehmer daran, die er nur die literarische Clique nannte, besonders aber Böttigers, den er laut als den gestiefelten Kater verhöhnte, fand er sich doch sehr häufig an den öffentlichen Orten ein, wo diese Männer gewöhnlich sich vergnügten. In der Regel entspann sich alsdann bald ein Kampf, wobei er mit seinem unverblümten Geradeheraus sehr den Unangenehmen spielte, mit den beißendsten Sarkasmen den Kaffee versalzte, seinem kritischen Humor ungeniert die Zügel schießen ließ, die ärgsten Brocken von Goethen und Shakespeare den Leuten ins Gesicht warf und dabei immer mit übereinandergeschlagenen Beinen an ihrem Whisttisch saß, dass sie Bock über Bock schossen. Dabei erschien er ihnen stets als ein Wauwau, alle fürchteten ihn, ohne dass einer jemals gewagt hätte, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Zum Glück blieb er über solche Dinge beim Reden stehen und bewahrte seine Tinte für anderes: Journalgeträtsche war nicht seine Sache, erschien ihm als zu kleinlich und verächtlich.«139
Schon in Göttingen war ihm Ludwig Sigismund Ruhl, ein Maler aus Kassel, nahegetreten. Als beide in Dresden von ungefähr wieder zusammentrafen, erneuerte sich ihr persönlicher Verkehr, und hier befestigte sich ein freundschaftliches Verhältnis von lebenslänglicher Dauer. Ruhl, der als Direktor der hessischen Kunstsammlungen zu Kassel im Jahre 1887 gestorben ist, neunzig Jahre alt, hat fünf Jahre vor seinem Tod »Eine Groteske« geschrieben (1882), worin er den Geist des Philosophen erscheinen lässt und ihm huldigt. In einer »Note« schildert er die Persönlichkeit Schopenhauers in jenen Jahren, wo er sein Werk schrieb. »Jetzt aber will ich dich, mein guter Arthur, der Welt keineswegs so zeigen, wie du endlich bei der Erkenntnis ihres Elends und ihrer unsäglichen Leiden bitter geworden bist. Gerade das Gegenteil habe ich im Sinn; meine Erinnerung führt mich vielmehr zu dem jungen, noch allerlei hoffenden Doktor Schopenhauer zurück, so wie ich ihm, nachdem wir beide Göttingen verlassen, in Dresden ganz unvermutet hinter der Kreuzkirche wieder begegnete, wo wir dann von da ab, trotz täglichen Streitens, unzertrennliche Gefährten wurden.« »Ich sehe dich noch im Geist unter all den Figuren auf der Brühl’schen Terrasse, hinter deren Erdendasein Zeit und Vergessenheit auch die letzte Spur schon verwehte. Du stehst wieder vor mir, mit der blonden, von der Stirn aufstrebenden Phöbuslocke, mit der sokratischen Nase, mit den stechend sich dilatierenden Pupillen, aus welchen gegen Kuhn und Kind, gegen Theodor Hell, Langbein, Streckfuß e tutti quanti der damaligen Dichtergrößen, die in Dresden le haut du pavé hielten, zerschmetternde Blitze fuhren. Ich war ganz Ohr bei euren Disputen, die mich zugleich ergötzten und unterrichteten. Dein Wissen zwang mich oft, den langen Weg aus der pirnaischen Vorstadt über die Elbbrücke bis zum schwarzen Tor hin und zurück zu machen. Wir saßen dann in deinem Zimmer, du mir vordozierend von dem und jenem, von den Erwartungen auf den Erfolg deiner Philosophie, von der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, worüber deine Mutter dich verspottend fragte, ob es eine Anweisung für Apotheker wäre?« u. s. f.140
Auch hat Ruhl ein von ihm gemaltes Ölbild seines Freundes hinterlassen, das Schemann geerbt und wovon er einen Stahlstich seinem Sammelwerk der »Schopenhauer-Briefe« vorgesetzt hat. Keine Spur einer Ähnlichkeit zwischen diesem Bild Schopenhauers, das Ruhl gemalt, und jenem, das er in Worten beschrieben! Keine Spur einer Ähnlichkeit in Bau, Form und Ausdruck des Gesichtes zwischen diesem Bild des dreißigjährigen und dem wirklichen Porträt des siebzigjährigen Mannes. Es gibt auch ein Bild von dem jungen Schopenhauer, aus dem Jahre 1809, welches Gerhard von Kügelgen gemalt haben soll und Gwinner in einem Stahlstich seinem obengenannten Werke einverleibt hat. Keine Spur einer Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Jugendbildern, dem von Kügelgen (wenn es von ihm herrührt) und dem von Ruhl: dieses letztere ist offenbar ein Phantasiestück, in einer Zeit gemalt, wo er das Original nicht vor Augen hatte! Keine Spur einer Ähnlichkeit zwischen diesen Jugendbildern und dem wirklichen Porträt des greisen Frankfurter Philosophen!
2. Die Schrift über Farbenlehre und der Briefwechsel mit Goethe
Das größte Erlebnis seines letzten weimarschen Aufenthaltes war sein persönlicher Verkehr mit Goethe gewesen und der Gewinn, der ihm daraus hervorging, das Studium und die Aneignung der Goethe’schen Farbenlehre, welche er jetzt in Dresden mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln, die ihm zu Gebote standen, theoretisch auszubilden und aus einem einzigen Grundgedanken herzuleiten