Edgar Wallace: 69 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
verstehen. Er hörte nur noch ein schnelles, dringendes Sprechen, und einmal lachte Mr. Merrivan laut auf.
Dann wurde ein Stuhl gerückt. Andy eilte aus dem Garten und verbarg sich in den gegenüberliegenden Büschen, bis Artur Wilmot herauskam und langsam seinem eigenen Haus zuschritt.
Familienstreitigkeiten erscheinen meistens schwerwiegender, als sie in Wirklichkeit sind. Aber hier handelte es sich doch um eine ungewöhnliche Auseinandersetzung. Welcher Art war wohl die geheimnisvolle Beschäftigung Artur Wilmots, die Mr. Merrivan nur zu erwähnen brauchte, um ihn ganz zahm zu machen? Vorher hatte er geschrien und seinen Onkel mit Mord bedroht, dann war er plötzlich ruhig geworden und hatte normal, fast bittend, gesprochen.
Andy wartete, bis Wilmot seine Haustür geschlossen hatte, dann trat er wieder auf den Weg und ging langsam zurück. Als er in die Nähe von Nelsons Haus kam, blieb er stehen und schaute hinauf. Sein Herz schlug ein wenig schneller. Er konnte das Mädchen oben am Fenster deutlich erkennen. Das Mondlicht ließ ihre Züge noch schöner erscheinen. Sie zog sich zurück, und das Fenster schloß sich langsam. Er wußte, daß sie ihn gesehen hatte. War sie erschrocken? Fürchtete sie sich vor ihm?
Sonderbar, dachte er, als er nach Beverley zurückfuhr, und das Merkwürdigste von allem war, daß er sich wieder wohler fühlte und das Gefühl der Bedrohung ihn verließ, sobald er wieder in die Hauptstraße einbog. Wenn es wirklich Teufel und Gespenster in Beverley Green gab, so mußten sie wirklich sehr mächtig sein, denn sogar Andrew Macleod hatte kurze Zeit unter ihrem Einfluß gestanden.
6
Stella Nelson saß beim Frühstück, als ihr Vater herunterkam. Er war nicht mehr so anmaßend. Er schämte sich, und in seiner ganzen Haltung drückte sich die Bitte um Verzeihung aus.
Früher hatte sich Stella durch seine Reue täuschen lassen, sie hatte geglaubt, daß doch noch etwas Gutes an einem Mann sein müsse und er sich bessern könne, wenn er seine Fehler einsah. Aber diese Illusion war zerronnen wie so viele andere. »Guten Morgen, mein Liebling. Ich wage kaum, dir ins Gesicht zu sehen«, sagte er, als er sich niedersetzte und mit unsicheren Händen seine Serviette entfaltete. »Ich bin ein Unmensch, ich habe mich aufgeführt wie ein Tier!«
Sie schenkte ihm Tee ein und kümmerte sich wenig um seine Worte.
»Du darfst mir glauben, Stella, es war das letzte Mal – wirklich, das allerletzte Mal. Ich habe heute morgen, als ich mich anzog, den festen Vorsatz gefaßt, nie wieder zu trinken. War ich wieder so unausstehlich? Habe ich wieder die Dienstboten hinausgeworfen?«
»Sie sind gegangen.«
Er seufzte.
»Vielleicht kann ich sie aufsuchen. Es wäre doch möglich, daß ich mit Mary die Sache wieder in Ordnung bringe. Sie ist eigentlich ein tüchtiges Mädchen, obwohl sie meine goldenen Manschettenknöpfe verloren hat. Ich will ihr alles erklären. Zu Mittag sind sie alle wieder da, Liebling. Ich kann nicht dulden, daß du die ganze Hausarbeit allein tust.«
»Mary hat heute morgen ihre Sachen abgeholt«, sagte Stella in sachlichem Ton. »Ich habe ihr auch den Vorschlag gemacht zu bleiben, aber sie erklärte, sie würde nicht wieder hierherkommen, selbst wenn ich ihr eine Million pro Jahr zahlte. Das habe ich ihr dann auch nicht angeboten.«
»Habe ich sie beschimpft – habe ich ihr allerhand Namen gegeben?« fragte er schuldbewußt.
Sie nickte und schob ihm die Marmelade hin. »Hast du etwas Geld – ich möchte einkaufen gehen.«
Er rückte unruhig hin und her: »Ich fürchte, ich kann dir nichts geben, ich bin gestern morgen nach Beverley gegangen, als du fort warst, und habe ein paar Besorgungen gemacht –«
»Das weiß ich«, unterbrach ihn Stella ruhig. »Du hast noch eine halbe Flasche mit Whisky stehenlassen, den ich weggeschüttet habe.«
»Das hättest du nicht tun sollen, mein Liebling«, erwiderte er kleinlaut. »Ich weiß wohl, er ist sehr schädlich, aber es ist doch gut, wenn für plötzliche Krankheitsfälle etwas im Haus ist.« Kenneth Nelson machte bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich die Andeutung, daß irgendeine schreckliche Krankheit ausbrechen könne, die nur durch reichlichen Genuß von Whisky zu heilen sei.
»Wenn jemand krank wird, wollen wir lieber Doktor Granitt holen«, sagte sie. »Hast du wirklich kein Geld für mich, Vater?«
»Ich habe nur ein paar Schilling.« Er zog eine Handvoll Silbergeld aus der Tasche. »Die brauche ich selbst«, fügte er hastig hinzu. »Ich bekomme aber heute meinen Scheck von dem Kunsthändler. Ich kann gar nicht begreifen, warum, er heute morgen mit der Post noch nicht gekommen ist. Diese Leute sind doch zu unzuverlässige Menschen.«
»Der Scheck kam schon vorige Woche«, entgegnete Stella ruhig. »Du hast dem Mädchen den Brief gleich draußen abgenommen und ihr gesagt, sie möchte mir nichts davon erzählen. Das hat sie mir gestern unter vielen anderen Dingen auch mitgeteilt.«
Er seufzte wieder.
»Ich bin ein Verschwender, ich bin ganz und gar verkommen«, klagte er sich an. »Ich bin schuld an dem Tod deiner armen Mutter, ich habe sie ins Grab gebracht – du weißt, daß ich daran schuld bin, Stella.«
In solchen Augenblicken fand er ein wahres Vergnügen darin, sich selbst zu beschuldigen. Daß seine Tochter sich dadurch verletzt fühlen könnte, kam ihm gar nicht zum Bewußtsein. Er empfand eine solche Befriedigung dabei, daß er sich unmöglich vorstellen konnte, andere seien unfähig, dieses Vergnügen zu teilen.
»Sage doch das nicht«, sagte sie beinahe schroff. Sie kam aber sofort wieder auf die Geldfrage zurück. »Vater, ich brauche Geld. Die Mädchen wollen den restlichen Lohn, ich habe versprochen, ihnen das Geld in die Stadt zu schicken.«
Er hatte sich in seinem Sessel zusammengekauert und brütete vor sich hin.
»Ich werde heute mit dem Bild anfangen – mit dem Pygmalion. Es wird allerdings einige Zeit dauern, bis ich damit fertig bin und das Geld dafür bekomme. Diese verfluchten Händler –«
Schon vor drei Jahren hatte er den Pygmalion zu malen begonnen, aber seitdem war er nicht wieder in Stimmung gekommen. Stella hatte es aufgegeben, Modelle für ihn zu engagieren. Sie nahm das Versprechen, das große Bild beenden zu wollen, mit derselben Gleichgültigkeit hin, die sie bei seiner Reue gezeigt hatte.
Plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke. Er lehnte sich zu ihr über den Tisch hinüber.
»Stella«, sagte er leise, »könntest du nicht etwas Geld bekommen – erinnerst du dich an die Summe, die du damals aufgetrieben hast, als mich dieser üble Marmeladenfabrikant wegen der Anzahlung verklagte, die er auf das Porträt gemacht hatte? Diese dummen Spießer glauben immer, man könnte ein Bild auf Befehl malen. Ich bin nie ein Kaufmann gewesen. Ich will ja die Kunst nicht in den Himmel heben, aber Kunst ist der Inhalt des Lebens, für mich wenigstens.«
Er schaute sie erwartungsvoll, beinahe bittend an, aber sie schüttelte entschlossen den Kopf.
»Auf diese Weise kann ich kein Geld mehr beschaffen. Lieber würde ich sterben. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, Vater.«
Plötzlich erhob sie sich, ging verzweifelt im Zimmer auf und ab und blieb schließlich vor ihrem eigenen, halbvollendeten Porträt stehen, das er begonnen hatte, als sie drei Jahre jünger war.
»Das wäre eigentlich ein Bild, das man fertigmachen sollte«, sagte er. »Ich bin jetzt gerade in der Stimmung dazu, ich könnte mich auf die Arbeit konzentrieren.«
Als sie aber später in das Atelier kam, sah sie, wie er andere angefangene Bilder betrachtete.
»Ein paar Wochen Arbeit an diesem Bild, Stella, und bei Gott, es könnte etwas daraus werden. Durch ein solches Bild bin ich damals in die Akademie aufgenommen worden!«
»Warum