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Expedition Antarctica. Evelyne BinsackЧитать онлайн книгу.

Expedition Antarctica - Evelyne Binsack


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zum Dorf, oder ich fuhr zu langsam. Es fehlten nur ein paar Hundert Meter. Bis ich die ersten Häuser erreichte, war ich nass bis auf die Knochen und gepiekst vom niederprasselnden Hagel. Vor allem die Hagelschläge empfand ich als gemeine Schikane. Ich heulte auf und rief den lieben Gott an, er möge sich meiner erbarmen. Bei einer Bushaltestelle fand ich Unterstand. Wenigstens Trockenheit. Aber die Kleider wechseln, wozu? Sie würden gleich wieder nass. Und ich hatte nur ein trockenes Set dabei. Es war Oktober und kalt, und hier konnte ich nicht übernachten. Das Dorf schien ausgestorben, das nächste unendlich weit entfernt. Nach einer Weile setzte sich ein alter Mann auf meine Bank. Er trug eine Windjacke. Die hätte ich zu gerne gehabt, um meine Gänsehaut zu bedecken. Vielleicht kannte der Mann eine Herberge. Ich fragte ihn. Er hörte schlecht und sagte lange nichts. Ob er nachdachte oder ob er nichts dachte, war ihm nicht anzusehen. Er schob bloß langsam seinen Kiefer hin und her. Ich hatte ihn schon fast aufgegeben, da mummelte er: »Da oben wohnt ein Holländer mit seiner Frau. Einer Französin. Die haben ein Hotel. Geh diese Straße rauf bis zu einem braunen Tor. Geh daran vorbei und bieg dann rechts ab. Bis zu einem weiteren Tor. Geh hindurch in den Innenhof und frag dort, ob du übernachten kannst.«

      Es klang wie im Märchen, das Männchen mit seinem zahnlosen Mund, diese Tore, die wie Prüfungen auf einem Lebensweg stehen. Als ich mich hochgeschleppt hatte, klopfte ich. Die Frau war entzückt. Sie hatte ihr Haus eben erst für Gäste geöffnet. Ich war ihr erster Gast. Sie schloss mir ihr bestes Zimmer auf und verwöhnte mich wie eine Prinzessin. Es gab eine Dusche mit zwölf Düsen in einer Oase von Luxus und Wohlstand.

      In dieser märchenhaften Stimmung spürte ich es wieder. Wir sind begleitet. Es gibt diese Zufälle, fast immer, die einem ganz einfach zufallen. Solche Zufälle haben meinen Glauben an eine Kraft, von welcher uns als Kind gelehrt wurde, dass sie Gott heißt, im Laufe meines Lebens vertieft. Nennen wir diese Zufälle mal einfach Giuseppe. Hinter diesen Erlebnissen steckt eine Botschaft. Giuseppe sendet solche Botschaften. Sie sprechen für sich. Man braucht sie nicht aufzuschreiben und man erinnert sich doch. Ein Leben lang.

      La Peregrina

      Fast unvermeidlich führte mich das Netz der Straßen in Spanien auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Ich wurde Pilgerin. Peregrina. Für andere Jakobs-Pilger bedeutet Santiago das Ziel. Für mich war es nur eine Etappe. Dort, so dachte ich, hole ich den Segen für meine weitere Reise. Nicht, dass ich fromm wäre in einem kirchlichen Sinn. Aber ich mache mich nie auf den Weg ohne die Verbindung, die sich im Glauben äußert.

      Zaragoza, Logroño, Burgos, León … Durchs Weingebiet des Rioja, durch die erbarmungslos kahle Hochebene der Meseta und über den nicht enden wollenden lärmigen Highway in Galicien näherte ich mich dem Ziel, das Millionen von Pilgerinnen und Pilgern seit dem Mittelalter über diese Straßen anzieht. Es ist ein Sog, dem sich kaum jemand entzieht, der davon einmal erfasst ist.

      Unwiderstehlich, von weit her sichtbar, ragten die Doppeltürme der Kathedrale auf dem Stadthügel mächtig in den atlantischen Himmel, aus dem so oft die ganze Nässe des Meeres abregnet; und jetzt, an diesem Sonntagnachmittag, als die Verheißung dieses besonderen Ortes schon fast mit Händen zu greifen war, rissen die Wolken auf. Eine kleine Offenbarung.

      Müde, verschwitzt und verstaubt wie jeder Pilger hielt ich Einzug auf dem prächtigen, barocken Platz vor der Kathedrale, auf dem die Besucher wie Bühnenhelden im Mittelpunkt des Geschehens stehen, sitzen, singen, beten und den Neuankömmlingen vorspielen, wie es sich fühlt, angekommen zu sein.

      Lebensabschnitte soll man feiern. Wie alle Pilger suchte ich Schutz und Zuspruch unter den schweren, kerzenrauchgeschwärzten Gewölben der Kathedrale. So wie es sich von alters her gehört, schritt ich um den heiligen Jakobus herum, um ihn von hinten zu umarmen. Und abends besuchte ich die Messe. Der Prediger forderte uns auf, nach Dingen zu streben, die man nicht kaufen kann, und im Vertrauen auf Gott furchtlos weiterzupilgern. Wünschte ich mir etwas anderes?

      Down

      Nach gebührender Rast flitzte ich die Kurven zur Küste nach Finisterre hinunter. Diese lange, sanfte Halbinsel südlich von La Coruna, wo die alte Welt zu Ende ist, zeigt wie ein Finger hinaus ins Meer, hinüber in die neue Welt, in der ich als Pilgerin gleichsam erlöst von den Plagen des alten Europas mit neuem Mut einen zweiten Anfang beschloss.

      Schließlich erreichte ich Porto, diese wunderbare Stadt im Norden Portugals, an einem tief eingeschnittenen Fjord, über den sich in weitem Bogen Eiffels berühmte, wohlgewölbte Eisenbrücke spannt. Ich hatte wenig Sinn für die Reize der blau gekachelten Häuser, die an den steilen Hängen kleben, und wenig Sinn für die Felsenkeller unten am Wasser, wo der Portwein in Eichenfässern für die Verschiffung in alle Welt heranreift. Im Grunde wollte ich bloß weg von Porto, weg von Europa, Richtung Westen, Richtung neue Welt. Aber die europäischen Plagen wollten noch nicht von mir lassen.

      Tief liegende, schwere Wolken und Regengüsse raubten mir den Sinn für die Lebendigkeit dieser Stadt, die mit dem Charme ihres Zerfalls spielt. Nach einer Nacht in einem heruntergekommenen Hotel erkundigte ich mich bei Meteotest telefonisch über das Wetter in Portugal. Ralph Rickli war das Mitgefühl anzuhören. Für die nächsten fünf Tage saß ich in der Waschmaschine eines Tiefs, das mich bis Lissabon mit Niederschlägen und Stürmen eindecken würde. Mist. Missmutig schob ich mein Fahrrad über die holprigen Straßen von Porto Richtung Bahnhof. Zwei Jugendliche mussten wohl meine schlechten Schwingungen gespürt haben. Jedenfalls rief mir der eine hinterher: »I want to fuck you.«

      Ihr schmutziges Gelächter gab mir den Rest. So eine Niedertracht. Nein, jetzt bloß nicht schon wieder Selbstmitleid. Wäre ich etwas besser drauf gewesen, hätte ich vielleicht gesagt: »So spricht man nicht mit einer Dame.« Aber so, wie es mir ging, forderte ich die Welt heraus, mich zum Opfer zu machen. Am nächsten Tag folgte ein dritter Tiefschlag. Diesmal aus dem Kreis meiner Freunde.

      Stefan Pfander, mit dem ich nach der Everest-Besteigung mit unserer Dia-Show durch die Schweiz tourte, sollte auch für Antarctica zuständig sein. Unsere Zusammenarbeit hatten wir wie immer zuvor per Handschlag besiegelt. Wir waren einander durch Vertrauen verbunden. Wegen Missverständnissen war das Vertrauen unversehens weg. Ich kehrte sofort nach Hause zurück, um das Backoffice zur Verwaltung sowie zur Betreuung der Sponsoren und der Medien neu aufzubauen. Das war nicht vorgesehen.

      Da meine Administration kein öffentliches Interesse erweckt, wollte ich meinen Abstecher in die Schweiz nicht unnötig bekannt machen. Aber bedrängt von den Medien, stellte ich mich den Interviews, obwohl es nichts zu berichten gab. Und böse Zungen meinten: Die Everest-Besteigerin hat schlappgemacht bei Wind und Wetter in Europa. Was hat die am Südpol verloren? Mit mildem Lächeln redete man mir zu: »Liebe Evelyne, überschätze dich nicht. Bleib lieber zu Hause, das ist besser für dich.« Aber ich dachte nicht daran, aufzugeben. Jeder Zweifel an meiner Entschlossenheit spornte mich erst recht zum Weitermachen an.

      Über Feinde

      Mit Feinden pflege ich meinen eigenen Umgang. Ob es der Berg ist, ein Tier oder ein Mensch. ich bin überzeugt: Feinde sind unvermeidbar – und unverzichtbar, als Gegner, Rivalen und Spiegel der eigenen Schwächen. Es ist eine gute Fähigkeit, dem Feind Gehör zu schenken. Er ist ja in den gleichen Strukturen verfangen, von den gleichen Emotionen getrieben. In seinem Gesicht sehe ich meine eigene Fratze. Unwissentlich und unwillentlich gibt er manches preis, das sich nutzen lässt.

      Deshalb liegt mir daran, meinen Feind am Leben zu halten. Ich brauche ihn für den Wettkampf. Ohne ihn und die Zuwendung, die er mir schenkt, kann ich nicht gewinnen. Als Zeichen für diese Wertschätzung darf ich ihm sogar Ehre antun. Wie jeder Schweizer Schwinger im Ring, der seinem unterlegenen Rivalen das Sägemehl vom Rücken klopft, und wie jeder Sportler, der seinem Bezwinger für seinen Sieg die Hand reicht, zolle ich meinen Feinden Respekt. Ich sehe sie eher als Gegner, die mich nicht vernichten, sondern mir zu meiner wahren Größe verhelfen. Je stärker der Feind, umso würdiger fordert er mich heraus, aus meinen Fehlern und seiner Stärke zu lernen. So gesehen ist der christliche Anspruch »Liebe deine Feinde« gar nicht so selbstlos. Wenn die Bibel empfiehlt, die andere Wange auch noch hinzuhalten, steckt dahinter die Erfahrung, dass der Schmerz und die Demütigung die


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