Finnische Träume | Roman. Joona LundЧитать онлайн книгу.
vorwagten.
Am Morgen wachte er verwirrt und aufgeräumt auf. Schwieriger war der Umgang mit den Tagträumen, die sich wie Nebel über andere Gedanken legten und seine Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit für sachliche Inhalte minderten. Ein Lehrer ermahnte ihn, lieber mitzuarbeiten statt immer vor sich hin zu träumen. Aufwühlende Gefühle begleiteten die Bilder und Träume, verselbständigten sich, brachen manchmal unvermutet hervor. Die Wucht dieser nicht steuerbaren Empfindungen verstörte ihn, sie hinterließen eine befremdliche Leere. Waren andere zugegen, verdeckte ein Lächeln wie eine Maske die Gefühle, um sich nicht durch sein Mienenspiel zu verraten. Und ohne es zu wollen, legte er ausgerechnet Inku gegenüber Verhaltensweisen an den Tag, die ihn hinterher ärgerten, trug sie doch keine Schuld an seinen wirren Gefühlen. Das schroffe Verhalten brach manchmal gerade dann aus ihm hervor, wenn sie seine Nähe suchte. Da sie nicht ahnte, warum er sich plötzlich so seltsam verhielt, zog sie sich gekränkt zurück, wurde kratzbürstig. Versuchte er einzulenken, indem er seine schlechte Laune auf die Schule schob, zuckte sie die Schultern.
»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.«
Die gereizte Atmosphäre, die auch Mutter auffiel, störte ihre bisher harmonische Beziehung erheblich. »Warum seid ihr auf einmal so hässlich zueinander? Ihr habt euch doch bisher so gut verstanden wie es Geschwister selten tun!«
Schweigend übergingen die beiden die Frage. Anders als in seinen Träumen behandelte er sie mitunter, als wäre sie Luft. Irgendwann drehte sie den Spieß um und forderte ihn so lange heraus, bis er ihr seine volle Aufmerksamkeit widmete. Seit Mutter ihn zurechtgewiesen hatte, es gehörte sich nicht, mit Mädchen in diesem Alter zu raufen, balgten sie sich kaum mehr. Aber die Ermahnung hinderte Inku nicht daran, ihn immer wieder zu reizen, bis er ihr Einhalt gebot.
So nahm sie einmal seinen Vier-Farben-Kugelschreiber, mit dem er gerade geschrieben hatte, an sich und lief in ihr Zimmer, hielt die Tür zu. Mit der Schulter drückte er die Tür auf, schnell steckte sie den Kuli in den Ausschnitt, grinste triumphierend. Ein kurzes Zögern, dann packte er ihre Hände, presste sie mit der Linken zusammen, griff mit der Rechten unter den BH. Als er ihren Busen berührte, schaute sie ihn starr an, ohne sich zu rühren. Da zuckte er zurück, ließ ihre Hände los und ging. Minuten später warf sie den Kuli auf seinen Schreibtisch und lachte. Ein unschönes befremdendes Lachen.
Es gab auch harmonische Phasen, etwa wenn sie klassische Musik oder Jazz hörten. Manchmal stand sie vom Sofa auf und begann, sich nach der Musik zu drehen, vor ihm zu tanzen.
Einmal schaute zufällig Mutter herein, freute sich, dass sie die Musik mochten, aber da war etwas, das sie störte, ohne dass sie hätte sagen können, was es war. Leise schloss sie die Tür. Die beiden waren so in die Klänge des Boleros von Ravel vertieft, dass sie Mutters Kommen nicht bemerkt hatten. Lange sann sie über die Szene nach: Inku hatte verträumt, wie in Trance, vor ihm getanzt, irgendwie hatte es – sie fand kein passenderes Wort – schamlos gewirkt. Mutter hatte nur Sekunden zugesehen, doch der lockende und herausfordernde Gesichtsausdruck der Tochter blieb ebenso im Gedächtnis wie seine Augen, die ihren Bewegungen wie in Hypnose folgten. Die Situation war befremdend, die Kinder erschienen so fern, der Raum war von einer seltsamen Atmosphäre erfüllt gewesen, die ihr, je länger sie darüber nachdachte, geradezu intim vorkam. Sie nahm sich vor, mit Jan zu reden. Doch sie verschob es, wusste nicht recht, wo sie ansetzen sollte. Im Grunde war es harmlos, und doch ... Sie war nicht gewohnt, über schwer in Worte zu fassende Befürchtungen zu reden, sah voraus, Jan würde sie nur schweigend ansehen und verwundert den Kopf schütteln.
Half er Inku bei den Aufgaben, lehnte sie sich an ihn, um besser über seinen Arm ins Heft gucken zu können. Das seltsame Prickeln, das ihn erfasste und ein Schauer, der zitternd durch den Körper lief, war eine völlig neue Erfahrung. Er musste sich zur Konzentration zwingen. Und verblüfft konstatierte er, dass jeder Versuch, die von ihr ausgehende Anziehungskraft zu ergründen und sie abzuschwächen, abgeblockt wurde, als würde eine Kraft sein logisches Denkvermögen lahmlegen. Nie zuvor hatte er ein so starkes Gefühl verspürt und es verstörte ihn, dass es ihm gerade bei Inku passierte. Er kämpfte dagegen an, doch der alle Sinne ansprechende Reiz erwies sich als stärker denn der Wille. Auch wenn sie nur an den Schrank gelehnt dastand und ihre Figur zur Geltung brachte, so verspürte er das Bedürfnis, hinzugehen und sie zu berühren. Dinge, denen er bislang kaum Beachtung geschenkt hatte, riefen Regungen hervor, die ihn verwirrten. Mutter schimpfte, wenn Inku den gebrauchten Büstenhalter im Badezimmer hängen ließ, das gehörte sich nicht. Aber am nächsten Tag hing er wieder dort. Es erschreckte Jan, dass ihn das feine Gemenge aus Körpergeruch, Schweiß und Seife, das ihm in die Nase stieg, und das er unter hunderten erkannt hätte, erregte. Statt den Geruch zu meiden, wühlte er sein Gesicht in den BH hinein, steckte ihn in die Hosentasche, um hin und wieder daran zu schnuppern.
Als die Entwicklung viel später eskalierte, warf er sich vor, der Faszination des Verbotenen nicht widerstanden zu haben, im Gegenteil, sie hatte ihn animiert. Ausschlaggebend für die Entfaltung seiner Gefühle war Inkus gesamte Erscheinung: Die Art zu gehen, sich zu bewegen, den Zopf nach hinten zu werfen, der staunende Blick aus den großen Augen, der oft nachdenklich auf ihm ruhte, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, und eben ihr Geruch. Unversehens hatte sich Gewohntes in eine völlig andere Kategorie verwandelt. Er las im Tagebuch und stellte verblüfft fest, die beschriebenen Empfindungen und Gedankengänge glichen den Äußerungen eines Verliebten. Sich selber gegenüber war er ehrlich genug, die Ausrede, die Heftigkeit seiner Gefühle sei eine Folge der Einsamkeit auf dem abgelegenen Hof in der schwermütigen Landschaft, als Selbstbetrug zu entlarven. Bisweilen erfassten ihn die Gefühlswallungen wie ein Fieber; die Ausschläge der Kurve flachten sich zwar bald ab, doch er wusste, die Fieberglut würde wiederkommen. Und er begann darauf zu warten, es war ihm egal, dass die Anfälle jedes Mal kräftiger wurden, von Heilung konnte keine Rede sein. Und im Grunde wünschte er auch gar nicht, geheilt zu werden, im Gegenteil: Er behielt nicht nur die Gewohnheit bei, vor dem Einschlafen im Tagebuch zu lesen, um einen Klartraum anzulocken, sondern stellte seine ganze Fantasie der Traumwelt zur Verfügung. Mit der neuen Gefühlslage konnte er noch nicht umgehen, mitunter hatte sie ähnliche Auswirkungen wie zu viel Alkohol. All das änderte sein Verhalten zu Inku von Grund auf. Im Tagebuch beschrieb er bestimmte Szenen sehr ausführlich, wie jene, die ein Schrei aus dem Badezimmer einleitete.
»Oh Gott, nicht schon wieder!«, drang der erregte Ruf durch die Tür.
Er eilte hin, klopfte, drückte die Klinke, es war nicht abgeschlossen. »Hast du dich verletzt?« Noch während der Frage registrierte er, dass Inku nur im Höschen auf der Waage stand und mit aufgerissenen Augen auf die Gewichtsanzeige schaute. Sie drehte sich ihm zu. »Ich habe schon wieder zugenommen!«
Wie eine Kamera hielt sein Gehirn das Bild fest, dass sie fast nackt vor ihm stand und ihn erschrocken anschaute. Plötzlich, als bemerkte sie erst jetzt, dass sie fast nichts anhatte, lief ihr Gesicht rot an. Sie nahm ein Handtuch und hielt es sich vor die Brust. Zum ersten Mal hatte er ihre Paradiesäpfel mit den zarten Knospen nah und deutlich gesehen, nicht groß, aber fest.
»Du bist halt im Wachsen«, stotterte er, »da nehmen alle zu. Und außerdem«, fügte er einem Impuls nachgebend hinzu, »gefallen mir nicht gar zu schlanke Mädchen ohnehin besser. Dürre Frauen sind schrecklich.«
Schnell schloss er die Tür, Inkus Schrei konnte auch Mutter gehört haben. War es Zufall oder war die Scheu ihm gegenüber noch ungewohnt? Jedenfalls hatte sie es nicht eilig mit dem Handtuch gehabt. Mit der Zeit kam eine ganze Reihe von Szenen zusammen, jede für sich harmlos, ihre Häufung aber beunruhigte. Vielleicht achtete er mehr darauf oder aber, schoss ihm der Verdacht durch den Kopf, sie probierte aus, wie er reagierte. Eventuell beabsichtigte sie sogar, ihn zu reizen? Ein so raffiniertes Verhalten traute er ihr nicht zu, zumindest so lange nicht, bis er jenes Lächeln das erste Mal sah, ein wissendes und, wie ihm schien, auch ein berechnendes Lächeln, das ihn in Unruhe versetzte und seinen Glauben an Zufall ins Wanken brachte. Damals ahnte er nicht, dass er dieses Lächeln, das ihre Wangengrübchen hervortreten und sein Herz schneller schlagen ließ, einmal lieben würde und dass ihn die Vorstellung, dass sie es auch anderen zeigte, rasend vor Eifersucht machen würde. Es war ein anderes Lachen als jenes, das sie beim übermütigen Zwitschern der Vögel an den ersten warmen Frühlingstagen, wenn das Eis auf den Seen schmolz, sehen ließ.