Sophienlust Classic 40 – Familienroman. Bettina ClausenЧитать онлайн книгу.
nicht, weil ich zum Arzt gehe«, entschied Ramona. »Ich muss mit ihm über Mama sprechen.«
Folgsam ließen sich die Geschwister zum Kindergarten bringen. Sie baten Ramona jedoch, sie recht bald wieder abzuholen.
Diesen Wunsch konnte Ramona ihnen nicht erfüllen. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten, als sie die Klinik verließ. Sie flüchtete in den Park, der in der Nähe lag. Hier konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Sie war froh, dass weit und breit kein Spaziergänger zu sehen war. »Mama«, flüsterte sie immer wieder, und ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.
Der Arzt hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Krankheit der Mutter war fortgeschritten und unheilbar. Da die Mutter aber nicht erfahren durfte, wie schlimm es um sie stand, musste Ramona das Schicksal der Familie in die Hand nehmen. Deshalb trocknete sie ihre Tränen und ermahnte sich selbst zur Ordnung. Mit Verzagtheit und Schwäche war niemandem geholfen. Sie musste jetzt in erster Linie an die Kinder denken.
Ramona erhob sich und schlug den Weg zum Kindergarten ein. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Musste ihr verweintes Gesicht Liza und Rolf nicht misstrauisch machen? Sie holte einen Taschenspiegel hervor und überprüfte ihr Aussehen. Die Augen waren rot und verschwollen. Nein, so konnte sie den Kindern jetzt noch nicht gegenübertreten.
Ramona ging noch eine halbe Stunde in der frischen Luft spazieren, bis ihr Aussehen sich einigermaßen normalisiert hatte. Dabei fasste sie den Entschluss, noch am gleichen Abend dem Stiefvater zu schreiben und ihm die Wahrheit mitzuteilen. Das hielt sie für ihre Pflicht.
Als sie schließlich den Kindergarten betrat, hatte sie sich so weit in der Gewalt, dass sie nach außen hin sicher und ruhig wirkte. Nur der Schmerz in ihren Augen ließ sich nicht verbergen. Aber um diesen zu bemerken, waren Liza und Rolf noch zu oberflächlich. Sie stürmten der großen Schwester erfreut entgegen.
»Puuh, war das langweilig«, stöhnte Rolf. »Bin ich froh, dass wir jetzt nicht mehr jeden Tag hierherkommen müssen. Zu Hause ist es viel schöner.«
»Du wirst doch nicht wieder fortgehen und uns allein lassen?«, fragte Liza plötzlich ängstlich, als Ramona nichts sagte.
»Wir waren doch immer lieb und haben uns Mühe gegeben, dir zu folgen«, erinnerte Rolf die große Schwester.
Da beugte sich Ramona zu den beiden herab und schloss sie in ihre Arme. »Ich werde euch nie mehr allein lassen«, versprach sie. »Wenn ihr wollt, bleibe ich immer bei euch.«
Liza und Rolf, die den tieferen Sinn dieser Worte nicht verstanden, erdrückten Ramona fast vor Begeisterung. »Nie mehr? Versprichst du uns das?«, vergewisserten sie sich.
Ramona nickte ernst.
Da war die Seligkeit der beiden vollkommen. Munter plaudernd legten sie den Heimweg zurück. Ihre Freude war so groß, dass sie den ganzen Nachmittag damit beschäftigt waren, sich das künftige Zusammenleben mit Ramona auszumalen.
Ramona war froh darüber. Sie wäre an diesem Nachmittag nicht in der Lage gewesen, mit den Kindern zu spielen. Die zwei Stunden, die sie am Bett der Mutter verbrachte, bedeuteten Qual und Schmerz zugleich. Als die Mutter endlich eingeschlafen war, ging Ramona in ihr Zimmer, um dem Stiefvater zu schreiben.
Diesmal diktierte die Verzweiflung ihr die Worte. Dass es einen Menschen auf der Welt gab, der sie verstehen und mit ihr trauern würde, erleichterte sie fast ein wenig. Zum Schluss ihres Briefes bat sie den Stiefvater, sofort zu kommen.
*
Marc Timbre war ein konsequenter Mensch. Was er tat, das erledigte er gründlich. So hatte er sich seit zweieinhalb Jahren in seine Arbeit vertieft und ihr sogar seine Freizeit geopfert.
Ramonas erster Brief hatte ihn zum ersten Mal aus diesem Trancezustand aufgerüttelt. Ihre zweite Nachricht stürzte ihn in tiefste Verzweiflung. Trotz aller Nachteile, die sich daraus ergaben, kündigte er seinen Vertrag nun sofort.
Obwohl Marc zehn Jahre jünger war als seine Frau, liebte er Marianne doch von ganzem Herzen. Er wusste, dass sein Herz immer nur ihr gehören würde. Und nun war sie krank, unheilbar krank. Verzweiflung und Schmerz übermannten ihn, sodass er am liebsten aufgeschrien hätte.
Bevor er heimreisen konnte, musste er noch alles für seinen Nachfolger vorbereiten. Man weigerte sich, ihn vorher gehen zu lassen. Besessen arbeitete er Tag und Nacht.
Da Ramona ihm geschrieben hatte, dass Marianne das ganze Ausmaß ihres Leidens nicht kenne, verzichtete er darauf, sein Kommen in einem Telegramm anzukündigen: Es hätte Marianne nur erschreckt. Er sandte nur ein paar kurze Zeilen an Ramona ab, um ihr das voraussichtliche Datum seiner Ankunft mitzuteilen.
Zu dem Zeitpunkt, da Ramona diese Nachricht in Händen hielt, wusste auch Marianne bereits, wie es um sie stand.
Niemand hatte es ihr gesagt. Doch ihre Krankheit war so rapide fortgeschritten, dass sie das nahe Ende spürte. Deshalb erzählte ihr Ramona auch, dass sie an Marc geschrieben habe und dass er so schnell wie möglich kommen wolle.
»Das ist schön«, lächelte Marianne. »Ich sehne mich so sehr danach, ihn noch einmal zu sehen.«
»Du wirst ihn bestimmt wiedersehen«, versprach Ramona zuversichtlich. Doch innerlich war sie alles andere als zuversichtlich. Wenn Marc sich nicht beeilte, würde er seine Frau kaum noch in die Arme schließen können.
Ramona unternahm jeden Tag ausgedehnte Spaziergänge mit den Kinder, um sie abzulenken. Dabei erzählte sie ihnen eines Tages, dass ihr Papi nun bald kommen werde.
»Wirklich?«, fragte Liza erfreut.
Rolf dagegen wollte es gleich genau wissen. »Wann kommt er, Ramona?«
»Genau in vierzehn Tagen«, beantwortete Ramona seine Frage.
»Einmal hast du aber gesagt, er bleibt noch ein halbes Jahr in Afrika«, erinnerte Rolf seine große Schwester.
»Er hat es sich anders überlegt, weil Mutti so krank ist«, belehrte ihn Ramona.
»Sie ist sehr krank, nicht wahr?«, sagte Liza, und ihre Stimme klang weinerlich.
Ramona überlegte, dass es keinen Zweck hatte, den Kindern etwas vorzumachen. »Ja, sie ist sehr krank«, gab sie zu.
»Muss sie sterben?«, fragte Rolf. In seinen Augen lag Angst, aber trotzdem spürte Ramona, dass er die volle Tragweite dieses Wortes noch nicht ganz begriff. Vielleicht war es besser so.
»Warum sagst du nichts, Ramona?«, drängte er.
»Ob unsere Mutti bei uns bleibt oder von uns geht, weiß nur der liebe Gott. Wir müssen hoffen und beten.«
»Hilft das denn?«, fragte Liza naiv.
»Vielleicht hilft es.«
»Und wenn es nicht hilft?« Nun kamen Liza doch die Tränen. »Dann haben wir keine Mutti mehr.« Sie begann bitterlich zu weinen.
Schnell nahm Ramona die kleine Schwester auf den Arm. »Weine nicht, mein Liebling, du hast doch noch deinen Bruder und deinen Papi und mich.«
»Wirst du ganz bestimmt immer bei uns bleiben, wenn Mutti stirbt?«, fragte nun Rolf. Seine Stimme zitterte und seine Augen forschten ängstlich in Ramonas Gesicht.
»Ich werde euch niemals allein lassen.«
»Ganz bestimmt, oder sagst du das jetzt nur so?«, bohrte Rolf weiter.
»Ich verspreche es euch«, antwortete Ramona feierlich. Sie war sich bewusst, dass sie dieses Versprechen halten musste, um den Kindern nicht den letzten Rest von Vertrauen und Sicherheit zu nehmen.
Mit geröteten Wangen kehrten sie schließlich ins Haus zurück. Es war ein heiterer Vorfrühlingstag, der einen kalten Wind mit sich brachte. Trotzdem spürte man schon den Frühling.
Je weiter der Frühling vorrückte, desto schwächer wurde Marianne.
»Wann kommt Marc?«, fragte sie Ramona jeden Tag.
Das