Animus. Astrid SchwikardiЧитать онлайн книгу.
war Marks gute Laune verflogen, und sein Magen hatte sich verkrampft. Dasselbe Problem hatte er bei Obduktionen. Eine Schwäche, die er versuchte, vor anderen zu verbergen. Nur dem Rechtsmediziner Dr. Karsten Mallow hatte er sich anvertraut, und der besorgte ihm seitdem regelmäßig Kreislauftropfen.
Sie hatten sich auf den Weg zum Leichenfundort gemacht. Die gesamte Zeit hatten sie sich angeschwiegen, bis sie schließlich einen Abhang erreichten, vor dem sich weitere Kollegen versammelt hatten. Die Leute von der Spurensicherung hatten bereits ein Zelt aufgebaut, das die Sonnenstrahlen reflektierte, die sich durch den lichten Wald kämpften.
Eine Kollegin sprach ihn an und hielt ihm einen Zettel unter die Nase, während Stefan und Walter zum Leichenfundort vorgingen. Die Angelegenheit, die seine Kollegin mit ihm klären wollte, war mehr als unwichtig gewesen. Längst wusste er, dass damals alles nur vorgeschoben war. Ein Ablenkungsmanöver, um Zeit zu gewinnen.
Er hatte den Tatort nur wenige Minuten nach Walter und Stefan erreicht. Die Spurensicherer suchten das Gebiet bereits nach Beweisen ab. Sofort stachen ihm die betretenen Gesichter seiner Kollegen ins Auge. Noch während er über das Absperrband stieg, verließ Stefan das Zelt. Mit aschfahlem Gesicht und Tränen in den Augen trat er ihm entgegen.
„Mark, geh da bitte nicht rein!“
„Was?“
„Bitte. Tu es nicht.“
Stefan machte einen Schritt zur Seite und versperrte ihm den Zugang zum Zelt.
„Was soll der Quatsch?“
„Mark, bitte!“ Mittlerweile hielt er ihn an der Schulter fest. Mit einer ruckartigen Bewegung riss er sich los. Erneut packte ihn Stefan am Oberarm. „Ich flehe dich an. Tu es nicht.“
Mark stieß ihn zur Seite, stürzte ins Zelt und verharrte in der Bewegung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die am Boden liegende Frauenleiche. Übelkeit stieg in ihm hoch, und Sekunden darauf erbrach er sich schwallartig, als er begriff, dass vor ihm die sterblichen Überreste seiner Schwester Patricia lagen.
Es folgte eine Zeit der tiefen Trauer. Der Selbstvorwürfe. Der inneren Zerrissenheit. Ein zermürbender Gefühlswechsel von Wut, Verleugnung bis hin zu unerträglichen Rachegelüsten, die ihm selbst Angst gemacht hatten. Dahlmann hatte das einzig Richtige getan und ihn von den Ermittlungsarbeiten abgezogen, mit der Auflage, sich einer Psychotherapie zu unterziehen. Sechs Sitzungen hatte er über sich ergehen lassen, aber die seelische Erleichterung, die er sich dadurch erhofft hatte, war ausgeblieben. Zwar hatten sich seine Schlafprobleme und sein ständiges Gedankenkarussell gebessert, doch nach wie vor waren sie vorhanden. Nach einem Monat hatte er die Therapie abgebrochen und Dahlmann gegenüber erklärt, dass er keine Seelenklempnerin bräuchte und selbst alles in den Griff bekommen würde. Niemals zuvor in seinem Leben hatte er sich so geirrt. Unverändert rissen seine Wunden wieder auf und setzten sein Gedankenkarussell in Gang, sobald er zu einem Tatort gerufen wurde und eine ermordete junge Frau vorfand.
Er atmete tief durch, während die Bilder seiner toten Schwester langsam blasser wurden, bis sie schließlich verschwanden. Eine erdrückende Stille umgab ihn, die er kaum ertrug. Hastig schaltete er das Radio ein und lauschte der Männerstimme, die mit einer Eilmeldung das Programm unterbrach. Er traute seinen Ohren kaum, als der Nachrichtensprecher von einer Wasserleiche berichtete, die am frühen Abend von der Kölner Polizei aus dem Fühlinger See gezogen worden war. Die Jungs von der Presse leisteten gute Arbeit und verdienten seinen Respekt. Fehlte nur, dass der Sprecher die Identität der Toten preisgab, doch nichts dergleichen passierte. Stattdessen wurde der nächste Song gespielt. Aber wer war die Tote?
In den letzten Wochen war die eine oder andere Vermisstenanzeige aufgegeben worden. Teenager, die nach Diskobesuchen oder Wochenendtrips spurlos verschwunden waren und erst Tage später wieder zu Hause auftauchten. Menschen, die aus ihrer Ehe flüchteten, um nach wenigen Tagen reumütig zurückzukehren. Aber auch junge Frauen, die nach einiger Zeit nicht wieder auf der Matte standen, sondern vermisst blieben. Ob die Tote eine von ihnen war?
Der Wetterbericht und die nachfolgenden Staumitteilungen rauschten an ihm vorbei. Erst das Klingeln eines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Er langte zu seiner Jacke, doch bis er das Smartphone zu fassen bekam, hatte es aufgehört zu klingeln.
Sein Blick wanderte zur Mondsichel, die am sternenklaren Abendhimmel leuchtete, und blieb an seinem Mobiltelefon hängen. Ein Bekannter hatte angerufen, der sich vermutlich auf ein Kölsch mit ihm treffen wollte. Er beschloss, ihn später zurückzurufen, denn vorher wollte er noch etwas nachsehen. Er aktivierte den Whatsapp-Messenger. Auf dem obersten Statusbild grinste Stefan mit einem Bierglas in der Hand. Die Fotos darunter waren von Gruppen oder Freunden. Er scrollte hinunter zu einem Bild, auf dem eine Frau mit dunkler Löwenmähne zu erkennen war. Maja. Er öffnete den Chat und las die Zeile unter dem Namen ‚Staatsanwältin Maja Reinhold‘. Zuletzt online um acht Uhr. Vor drei Minuten.
Sein Blick fiel auf das Datum im Chatverlauf. Siebzehnter Oktober. An dem Tag hatte er Maja das letzte Mal eine Nachricht geschickt, die bis zum heutigen Tag unbeantwortet geblieben war.
Er hatte Maja vor eineinhalb Jahren kennengelernt. Es war ihr erster gemeinsamer Fall gewesen. Ein Serienkillerfall, der ihnen an die Substanz gegangen war und ihnen alles abverlangt hatte. Sowohl fachlich als auch emotional. Von Anfang an war der Wurm in ihrer Beziehung. Wenn man überhaupt davon sprechen konnte. Vielmehr war es eine geschäftliche Verbindung, die hin und wieder in eine Liaison abdriftete. Die Zähne hatte er sich an ihr ausgebissen. Er war schon kompliziert, doch Maja übertraf ihn um Längen. Dabei hatte er gedacht, er wäre nach dem Vier-Augen-Gespräch auf Majas Geburtstagsfeier vor über einem Jahr endlich am Ziel seiner Träume gewesen. Das war er auch, eine Viertelstunde lang. Solange, bis kurz nach Mitternacht plötzlich Majas Ex-Freund auftauchte und ihr vor versammelter Mannschaft einen Kuss verpasste, der sogar Stefan sprachlos gemacht hatte. Innerhalb kürzester Zeit war Mark von Wolke sieben abgestürzt und hart auf den Boden der Realität aufgeschlagen. Eine gefühlte Ewigkeit hatte er gebraucht, um zu begreifen, was da vor seinen Augen passierte. Keine zehn Minuten darauf hatte er die Party verlassen. Vielmehr war er geflüchtet und hatte nie mehr ein Wort darüber verloren, nachdem er von Dritten erfahren hatte, dass Maja seitdem wieder mit ihrem Ex-Freund zusammen war. Mehr als ein Jahr hatte er das Thema Maja Reinhold gemieden, und er hätte es auch weiterhin durchgezogen, wenn nicht vor vier Wochen ihr Abendessen beim Italiener dazwischengekommen wäre.
Maja und er hatten bis spät abends über Ermittlungsakten gebrütet und über das mögliche Motiv eines Mörders nachgedacht, als Maja plötzlich auf die Idee kam, beim Italiener etwas Essen zu gehen. Was sie schließlich auch getan hatten. Seitdem war mehr als ein Monat vergangen, doch nach wie vor wusste er nicht, was er von dem Abend halten sollte. Sie hatten beide zu viel Wein getrunken, und plötzlich hatte er Maja nach Dingen gefragt, nach denen er besser nicht gefragt hätte.
Er startete den Motor, lenkte den Wagen vom Parkplatz und beschloss, in seine Wohnung zu fahren.
Kapitel 5 Mittwoch, 22. November
Am nächsten Morgen saß Mark in seinem Büro und schrieb eine Zusammenfassung über ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse, als sein Handy klingelte. Er tippte den Satz schnell zu Ende und setzte seine Hornbrille ab, die er normalerweise nur fürs Lesen brauchte. Er war felsenfest davon überzeugt, dass er mit Brille seriöser wirkte. Stefans Meinung hingegen war, dass er damit wie ein verwirrter Brillenlangur aussah. Doch sie erfüllte ihren Zweck. Außerdem konnte er mit der Brille Zeit schinden, wenn er in heiklen Situationen Bedenkzeit benötigte. Verwundert schaute er aufs Display. „Maja. Ich habe schon gehört, dass du dich um die Ermittlungen kümmerst“, meldete er sich mit belegter Stimme und räusperte sich.
„Falsch, mein Lieber. Du kümmerst dich um die Ermittlungen, und ich sage dir, was du tun sollst“, erwiderte sie lachend und setzte hinterher: „Mir geht es übrigens bestens. Danke der Nachfrage. Aber weshalb ich anrufe: Check doch mal bitte, ob in der Vergangenheit …“
Professionell und überaus abgeklärt ging Maja zur Tagesordnung über. Ihr sachlicher Tonfall versetzte ihm einen Stich in die Magengrube,