Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. DahlhausЧитать онлайн книгу.
sondern dass ich, wenn ich mich um Offenheit bemühe, auch meiner eigenen Angst begegne.
Fähigkeit der Dankbarkeit
Wenn wir solchermaßen mit Angst umgehen, können wir erleben, dass auf der einen Seite der Mut der Angst gegenübersteht, dass Mut helfen kann, Angst auszugleichen. Darunter liegt aber noch ein weiteres »Geheimnis«: Letztlich ist es vor allem die Fähigkeit der Dankbarkeit, die helfen kann, an der Angst zu wachsen. Dankbarkeit, die sich auf Bereiche bezieht, die außerhalb der jeweiligen Ängste liegen. Und Dankbarkeit ist lernbar!
Angst als eigenständige Erkrankung wird in dem Kapitel »Angststörungen« beschrieben, siehe Seite 199 ff.
Psychiatrische Erkrankungen
Wer, wenn nicht diejenigen unter ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, dass man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, dass man enttäuscht, und das heißt ohne Täuschung, zu leben vermag.
Ingeborg Bachmann
Wie in der Einleitung erwähnt, sind es die gleichen seelischen (psychischen) Erkrankungen, an denen Menschen mit und Menschen ohne Intelligenzminderung erkranken. Die eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeit vieler Betroffener »verschleiert« oft das eigentliche Geschehen.
Hinsichtlich der einzelnen Krankheitsbilder möchte ich zunächst einen allgemeinen Überblick über diese jeweilige Erkrankung geben: Erscheinungsformen, Grundsymptome – ein Basiswissen. Da die Symptomatik des jeweiligen Krankheitsbildes nicht immer unmittelbar erkennbar ist, gilt es darüber hinaus, die besonderen Erscheinungsformen jeder bekannten seelischen Erkrankung bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen herauszuarbeiten, und dies beinhaltet insbesondere auch, die erforderlichen spezifischen diagnostischen Zugänge darzustellen.
»Blick von außen« und »Blick von innen«
Meine Schilderung folgt dabei einem Weg, den ich auch in der jeweiligen Beratung von Betroffenen zu verfolgen versuche. So gilt es zunächst, zwei unterschiedliche Blickwinkel zusammenzuführen – den Blick »von außen« und den Blick »von innen«. Der Blick »von außen« meint: Was sehe ich – als Angehöriger, als Heilpädagoge oder Sozialtherapeut, als Arzt oder Therapeut? Was zeigt mir der andere durch sein Verhalten ebenso wie durch seine Äußerungen?
Dies ist aber nur ein Blickwinkel. Bliebe er allein, würde das Wesentliche übersehen. Deshalb auch ein Blick »von innen«. Die Indianer benennen es so: »Wenn du den anderen verstehen willst, musst du in seinen Mokassins gehen.« In einem Brief aus dem Jahre 1915 drückt Rudolf Steiner es so aus: »Man kann kaum einem Menschen seelisch etwas sein, in dessen Innenlage man sich nicht versetzen kann.«37 Søren Kierkegaard sagt einmal: »Habe ich verstanden, was der andere verstanden hat?«38 Nur dies kann sinnvoller Ausgangspunkt meines Handelns sein. Dieser zweite und letztlich entscheidende Blickwinkel ist also der Versuch, sich in den Betroffenen hineinzuversetzen, zu versuchen, die Dinge mit seinen Augen zu sehen, aus seiner Seele her nachzuempfinden. Es ist selbstverständlich, dass dieser vorrangig empathische Zugang immer nur eine Annäherung sein kann, ein Versuch.
reflexive Distanz
So wird es immer wieder die Frage sein, ob ich mich wirklich dem anderen nähere oder ob ich in einer Interpretation, einem Vorurteil, befangen bin. Kritische Distanz zu mir, reflexive Distanz, ist da erforderlich.
eigene Erlebens- und Sehfähigkeit
In eindrucksvoller Weise hat der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers den Zusammenhang dieser beiden Blickrichtungen »von innen« und »von außen« 1965 dargestellt: »Das Eigentümlichste, das der Psychopathologe [hier ersetzt durch: »der / die Heilpädagoge/in« bzw. »Sozialtherapeut/in«, d. V.] erkennt, erwächst ihm im Umgang mit Menschen. Was er hier erfährt, ist abhängig davon, wie er in der Situation sich dem Menschen gibt und wie er therapeutisch mitwirkt an dem Geschehen, in dem er zugleich sich selbst und den anderen erhellt. Er vollzieht nicht nur ein indifferentes Wahrnehmen, wie beim Ablesen eines Maßes, sondern das ergreifende Verstehen im Erblicken der Seele. Der Psychopathologe [»der / die Heilpädagoge/in« … d. V.] ist abhängig von seiner Erlebens- und Sehfähigkeit, ihrer Weite, ihrer Offenheit und Fülle. Es ist ein großer Unterschied zwischen den Menschen, die blind trotz offener Augen durch die Welt der Kranken gehen, und der Entschiedenheit klaren Wahrnehmens aus einer Sensibilität der Teilnahme. Das Miterzittern der eigenen Seele mit den Ereignissen im anderen fordert dann vom Forscher [von »dem / der Heilpädagogen/in … d. V.] das denkende Vergegenständlichen solcher Erfahrung. Ergriffenheit ist noch keine Erkenntnis, sondern Quelle der Anschauungen, die für die Erkenntnis das unerlässliche Material bringen. Kühle und Ergriffenheit gehören zusammen und sind nicht gegeneinander auszuspielen. Kühle Beobachtung allein sieht nichts Wesentliches. Nur beides in Wechselwirkung kann zu Erkenntnis führen. Der Psychopathologe [»der / die Heilpädagoge/in bzw. der / die Sozialtherapeut/in«, d. V.], welcher wirklich sieht, ist eine vibrierende Seele, die ständig das Erfahrene bewältigt, in dem sie es in rationale Fassung bringt.«39
Diesen Zusammenklang – den jeweiligen Blick von außen und von innen – möchte ich bei den unterschiedlichen Phänomenen und Krankheitsbildern versuchen, im Wissen, dass dies immer nur eine Annäherung sein kann.
Erweiterung des Blickwinkels
Ergänzen möchte ich dies mit »Reflexionen«. Damit meine ich ein Einordnen der jeweiligen Bilder in einen medizinischen, neurobiologischen und auch gesellschaftlichen Kontext. Dies auch im Sinne einer »Erweiterung« des Blickwinkels in einen anthroposophisch-menschenkundlichen Zugang.
All das möchte dann hinführen zur Therapie, also zu spezifischen heilpädagogisch-sozialtherapeutischen Maßnahmen, angemessenen Strukturen, erweiterten Therapien oder auch medikamentösen Maßnahmen.
Das Wort »Therapie« meint von der Bedeutung des griechischen Wortes her: »dienen«. Das verlangt von den angesprochenen Maßnahmen, dass sie dem Betroffenen konkrete Unterstützung sein können. Es liegt im Wesen von psychiatrischen Erkrankungen, dass die hilfreiche Unterstützung Betroffener oft auch Hilfe für Begleiter bedeutet.
Beispiele von Entwicklungen und Verläufen sollen helfen, das Geschilderte zu konkretisieren und zu illustrieren.
bildhafte Darstellung für Betroffene
Als ich zum wiederholten Male in einer Einrichtung zur Mitarbeiterfortbildung war, stellte sich unvermittelt ein Bewohner vor mich hin und sagte: »Sie haben mit den Mitarbeitern über Autismus-Spektrum-Störungen gesprochen. Warum nicht mit uns? Wir sind doch die Betroffenen!« Dies leuchtete mir unmittelbar ein, und ich erweiterte dahingehend mein Fortbildungsangebot. So schließt sich hier in ausgewählten Kapiteln der Versuch an, die Inhalte in bildhafter Weise auch den eigentlich Betroffenen zu vermitteln. Es liegt im Wesen der Sache, dass dies immer nur beispielhaft sein kann. Die jeweilige Vermittlung des Geschehens, das Übersetzen in die individuellen kognitiven und emotionalen Auffassungsmöglichkeiten der Betroffenen kann nur immer wieder neu formuliert werden.
Herausforderndes Verhalten bringt auch die Mitarbeiter an Grenzen. An ihre eigenen Grenzen, an die Grenzen der Strukturen und der Teams. Dies gilt es zu achten, und dem widmet sich auch das Kapitel über die Selbstfürsorge.
unsere Haltung als Zugang zum anderen
Eingebettet sollen diese Schilderungen in das eigentlich Entscheidende sein, das wir den Betroffenen entgegenbringen möchten – unsere Haltung. Dahinter steht die Prämisse, dass unsere Haltung – unser inneres, authentisches Stehen vor dem anderen – einen eigenen und unmittelbar wirksamen Zugang zum anderen