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Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. DahlhausЧитать онлайн книгу.

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus


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Belastungsstörung (PTBS)

       der Begriff »Trauma«

      Der Begriff »Trauma« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Er wird von jeher in der Medizin gebraucht, um eine erhebliche Verletzung, wie durch einen starken Schlag oder Stoß gegen einen Körperteil, zu bezeichnen. In der Psychologie und Psychiatrie beschreiben wir mit diesem Begriff eine starke seelische Erschütterung.

      Der Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder auch Traumafolgestörung bezeichnet eine umfassende und vielschichtige Symptomatik, die durch ein solches seelisches Trauma ausgelöst wird und in der Folge das Erleben und Verhalten von betroffenen Menschen in einer ausgeprägten Weise beeinflusst.

      Immer deutlicher wird durch ein gewachsenes Bewusstsein hinsichtlich möglicher Traumatisierungen, wie viele Menschen davon betroffen sind. Im Nachhinein kann es tief erstaunen, wie lange die oft schweren Folgen einer Traumatisierung von der Medizin wie der Pädagogik nicht hinreichend erkannt und gewürdigt wurden.

       »natürliche Traumaheilung«

      In aller Kürze vorangestellt: Auch ein schweres und massiv herausforderndes Geschehen oder Ereignis muss nicht zu einer Traumafolgestörung (PTBS) führen. Solange ein Mensch in der Lage ist, sich genügend zu schützen und in Sicherheit zu bringen, oder solange er in der Lage ist, sich hinreichend zu wehren, muss das Erlebte oder Erlittene nicht in eine Folgeschädigung münden. Auch gibt es – der Möglichkeit nach wie bei jeder Krankheit – prinzipiell auch einen »natürlichen Traumaverlauf« und eine »natürliche Traumaheilung«.

      Die Ärztin und bedeutende Traumaforscherin Luise Reddemann formulierte es einmal so: »Nicht alles Belastende ist ein Trauma. Unter einer traumatischen Erfahrung versteht man, dass die Situation überwältigend ist und dazu führt, dass man sich extrem ohnmächtig und hilflos fühlt. Außerdem erlebt man Gefühle von Panik, Todesangst, Ekel.«40

       »Konzept der vier F«

      In einfachsten Worten ist die Voraussetzung für die Ausbildung einer Traumafolgestörung in dem »Konzept der vier F« zusammengefasst: Menschen wie Lebewesen kämpfen generell, wenn sie belastet, herausgefordert oder bedrängt werden. Oder sie fliehen, wenn sie spüren, dass ihre Kräfte nicht reichen: »Fight and Flight«. Ist beides nicht möglich, führt dies zu einer Erstarrung: »Freeze«. Da Menschen mit Behinderung entwicklungsbedingt bei Kampf und Flucht in ihren Möglichkeiten begrenzt sind, ist die Häufigkeit der Erstarrung, des »Freeze«, besonders hoch. Und eine zentrale Folge des Erstarrens ist die »Fragmentation«, Dissoziation, eine Aufsplitterung insbesondere der seelischen Fähigkeiten, wobei die Beeinträchtigung auch bis ins Körperliche und in zentrale Persönlichkeitsbereiche dringt.

       Professionalisierung

      Es ist zutiefst wichtig, in Heilpädagogik wie Sozialtherapie eine Professionalisierung sowohl im Erkennen der Symptomatik wie im Wissen um Therapiemöglichkeiten zu entwickeln. Dies umso mehr, da Menschen mit Intelligenzminderung in ihren kognitiven Bewältigungsmöglichkeiten oft überfordert sind, zusätzlich aber auch bei eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten nur bedingt in der Lage sind, eigenes erlittenes Leid hinreichend auszudrücken. Vor allem aber, weil Traumatisierungen so häufig geschehen!

       Blick von außen – Begegnungen mit einem traumatisierten Menschen

       scheinbare Widersprüchlichkeit

      Die Begegnung mit einem traumatisierten Menschen ist oft in einer starken Weise herausfordernd. Es gibt kein einheitliches Bild, die möglichen Erscheinungsformen können höchst unterschiedlich sein; und sie können sich im Verlauf in Form und Intensität erheblich verändern. Manches an diesem Erscheinungsbild kann auf den Begleiter auch bizarr oder verwirrend wirken. Die scheinbare Widersprüchlichkeit in den oft stark wechselnden Stimmungen und Verhaltensweisen verleitet Begleiter immer wieder zur Verkennung der bestehenden Not.

       Blick für dissoziative Zustände

      Wichtig ist es, einen Blick für sogenannte dissoziative Zustände zu entwickeln. In diesen Zuständen reagiert der andere oft nicht oder nur eingeschränkt. Er entgleitet dem Betreuer, kann dann wie unnahbar und unerreichbar wirken, eigentümlich »abgezogen«; im Erscheinungsbild kann das fatalerweise als »überheblich« oder »desinteressiert« verkannt werden. Vielleicht wird der andere in diesem Moment eingeholt von Erlittenem, ist wieder in diesem Geschehen festgehalten, also in einem sogenannten Flashback (siehe Seite 91) befangen. Ein Mensch in diesem Zustand wird dann extrem dissoziiert wirken, zusätzlich wie erstarrt, oft mit ausgeprägt kalten Extremitäten, in den Augen tiefe Angst.

      Oder er ist Intrusionen ausgesetzt, intensiven Sinneseindrücken, die ihn jäh überwältigen, ebenfalls von der jeweiligen Umgebung abziehen und »entrückt« erscheinen lassen (siehe auch Seite 92).

       plötzliche Verhaltensänderungen

      Auch können wir plötzliche und unmittelbare Veränderungen im Gebaren und Verhalten des anderen erleben, wie aus dem Nichts aufschießende aggressive Zustände oder ein nicht einfühlbarer Rückzug, eine abrupt entstehende Abwehr – ein befremdliches Verhalten. Wir können Vermeidungsverhalten beobachten, eine große Übervorsichtigkeit.

      Vielleicht können wir mit der Zeit Bedingungen erkennen, die solchen Veränderungen vorausgehen, zum Beispiel die Anwesenheit einer bestimmten Person, der Übergang zur Nacht oder Ähnliches. Doch oft bleibt es uns – zunächst – ein Rätsel, was die jeweilige Situation auslöst.

      Die Stimmung mag sich verändern und umschlagen von Aggression in eine tiefe Verstimmtheit, Dysphorie, oder auch in eine (scheinbare) Gefühlsabflachung. Eine Schreckhaftigkeit, oft eine Hoffnungslosigkeit mag uns begegnen und immer und unentwegt die Neigung zu einer großen Angst.

       Abgrenzung von anderen Erkrankungen

      Die unterschiedlichen Bilder können eine erhebliche Dimension annehmen und sehr an eine Psychose erinnern, sie können dem Bild einer Depression ähneln oder auch schwer abgrenzbar sein von der Symptomatik einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (Borderline-Persönlichkeits-Störung).

      Weiterhin können Formen der Verweigerung auftreten, auch ungewöhnliche Kontaktgestaltungen wie ein Anklammern oder umgekehrt ein heftiges abweisendes Verhalten. Regressive Phänomene, die an ein ausgeprägt kindliches Verhalten erinnern, treten auf.

      Es können sich anhaltende Ess- und Schlafstörungen zeigen, aber auch körperliche, somatische Phänomene wie nicht einfühlbare und nicht abklärbare Kopfschmerzen, Erbrechen oder Durchfall. Zittern, Schwitzen und Herzrasen treten auf; wir können eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit wahrnehmen, eine taktile Über- und Unterempfindlichkeit, ein oft intensives oder auch abgeschwächtes Schmerzempfinden. Oder der andere zeigt uns Nacken- und Körperschmerzen unklarer Genese.

      Im Sozialen ergeben sich Bindungsstörungen wie der Abbruch von scheinbar sicher gewähnten Beziehungen, Probleme mit der Affektregulation oder Angst vor fremden Personen, oft auch ein Bedürfnis nach intensiver Rückversicherung, verbunden mit Trennungsängsten oder wiederum auch Kontaktvermeidung.

       vielschichtiges Bild

      Immer ist es ein sehr vielschichtiges Bild, wobei nur einzelne der geschilderten Symptome auftreten können oder auch mehrere Symptome sich gelegentlich abwechseln und auch in Stärke und Intensität in unterschiedlicher Weise auftreten.

      Wir erleben den anderen in seinem Verhalten und Gebaren, in seinen Handlungen und Äußerungen. Gleichzeitig aber erleben wir ihn auch innerlich, wir fühlen mit ihm, oder anders ausgedrückt: Der andere spiegelt sich in unserer Seele. Hier liegt der wesentliche Schlüssel zum Erkennen


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