Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. DahlhausЧитать онлайн книгу.
oder verhindert eine solche Dissoziation die Möglichkeit, dass ein Mensch seiner selbst in der Fülle bewusst wird, auch über die Möglichkeiten der eigenen Entwicklung, Bewältigung und Verwandlung. So können die eigenen Gefühle als fremd oder nicht zugänglich erlebt werden, was zur Folge hat, dass sich die Betroffenen in ihrer Autonomie des eigenen Handelns als beschränkt und begrenzt erfahren.
Ein 32-jähriger Mann wurde Opfer eines heimtückischen Raubüberfalls, bei dem sein Vertrauen ausgenutzt wurde. Trotz weitgehender Integration in Privat- wie Berufsleben treten Zustände einer vermeintlichen Apathie auf; er erlebt sich dann handlungsunfähig, ausgeprägt verlangsamt, nimmt die Umgebung »wie von weit her« wahr und hat kein Gefühl dafür, wie seine Füße auf dem Boden stehen.
Eine 32-jährige Frau war in der Kindheit schwerster Isolation und teilweise Bedrohung ausgesetzt. Sie hat nicht die einem Kind von Naturzustehende Hilfe und Unterstützung erfahren dürfen. Kleine Herausforderungen, Änderungen eines Vorhabens oder Konflikte führen zu dissoziativen Zuständen. Sie erlebt sich dann »wie schwebend«, hat kein Gefühl für den Körper, alles geht ihr zu schnell, sie empfindet sich wie abgeschnitten von sich selbst, wie gelähmt. Dies führt in sozialen Situationen (unter anderem bei Ämterkontakten) zu schwierigen Situationen: Sie »stelle sich dumm«, wird ihr gesagt, sie »verweigere sich«, sei »affig und überheblich«. Diese Konflikte, die Unfähigkeit, sich zu erklären, verstärken die Symptomatik erheblich.
»Schonung« der Seele
Wie andere Symptome der PTBS beinhaltet die Dissoziation auch den Aspekt einer – wenn auch nur vorläufigen – Lösung, die eine Hilfe für die Betroffenen darstellen kann: Durch die Abspaltung des Affekts, der Gefühle oder auch von belastenden Erinnerungen bleibt die Seele von den überwältigenden, bedrängenden und überfordernden Eindrücken »verschont«. Dies kann uns in der Begleitung eines traumatisierten Menschen lehren, mögliche therapeutische Prozesse vorsichtig und abwartend einzusetzen. Grundgedanke der Therapie bleibt es, zuzuwarten, Hilfe anzubieten, aber nicht aufzudrängen und die jeweilige und aktuelle Möglichkeit des Betroffenen zu einzelnen Schritten zu respektieren – und so lange gegebenenfalls das Fortbestehen einer Symptomatik zu akzeptieren.
Kernsymptome einer PTBS
Flashback
Als Flashbacks bezeichnen wir plötzlich auftretende ungesteuerte Erinnerungseinschübe, die einen Menschen ereilen und überwältigen können – wie ein »Blitz«, plötzlich und unmittelbar. Der oder die Auslöser eines solchen Flashbacks werden Trigger genannt. Solch ein Trigger verweist immer in meist unspezifischer Weise auf die ursächlich traumatisierende Situation oder auf Personen, die damit in Zusammenhang stehen.
aufgezwungene Regression
Im Durchleben eines Flashbacks kann ein einmal Erlittenes wie gegenwärtig erlebt und erneut durchlitten werden. In gewisser Hinsicht ist die ganze Fülle des traumatischen Geschehens in diesem Erleben wieder da. Und zwar immer wieder in gleicher oder zumindest sehr ähnlicher Weise – immer mit der gleichen ursprünglichen Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst, aber ohne dass die traumatisierende Situation selber bewusst erinnert bzw. eingeordnet werden kann. Ganz so, als wäre der betroffene Mensch in dem Alter, in dem er stand, als sich das traumatisierende Geschehen ereignete. Ein Flashback stellt somit auch eine massive aufgezwungene Regression dar.
Solche Flashbacks ereignen sich immer dann, wenn das Geschehene nicht zwischenzeitlich bewältigt oder verarbeitet werden konnte, wenn auch noch so unzureichend.
Das Geschehene ist in einer tiefen Schicht des Gedächtnisses »gelagert«. Wir beschreiben diese Ebene auch als »Körpergedächtnis«.
Eine jetzt 25-jährige Frau wurde im ersten Schulalter Opfer sexueller Gewalt in der Herkunftsfamilie durch den Stiefvater. Trotz insgesamt sehr positiver und zukunftsgerichteter, kraftvoller Entwicklung treten immer wieder – oft unvermittelt – Phasen auf, in denen sie wie in das damalige Erleben »versinkt«, mal »getriggert« durch Erleben von Gewalt (beispielsweise in Nachrichten etc.), mal ohne erkenntliche Auslöser. In diesen oft über Stunden anhaltenden Zuständen regrediert sie (d. h. sie geht auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zurück), sie wirkt unbeholfen und schutzlos wie das Kind, das sie zur Zeit der Tat war.
Intrusionen
Eine leicht abgeschwächte Form dieser Flashbacks sind Intrusionen. Es handelt sich dabei um sich aufdrängende, stark belastende isolierte Sinneseindrücke, Erinnerungen, Gedanken und Gefühle. Intrusionen können getriggert werden durch charakteristische Situationen, Geräusche, Gerüche oder andere Sinneseindrücke. Auch Intrusionen führen zu einem Empfinden des Ausgeliefertseins und sind mit oft ganz erheblicher Angst verbunden.
Ein jetzt 23-jähriger Mann wurde als Jugendlicher von einer Gruppe Jugendlicher überfallen und misshandelt. Dabei wurde er auf den Wiesenboden niedergedrückt. Dieser Geruch, auch der von gemähtem Gras, oder manchmal eine sich aufdrängende Geruchserinnerung daran lässt die damals erlebte Angst wieder unmittelbar aufbrechen.
Ein Zugführer konnte es nicht verhindern, einen Menschen, der in suizidaler Absicht auf den Gleisen stand, zu überfahren. Immer wenn ein Signalhorn ertönt, führt dies bei ihm zu Panik, heftigem Schweißausbruch und einer Erstarrung.
Amnesie
Ein weiteres Symptom der PTBS kann die Amnesie sein, ein Gedächtnisverlust. Dieser kann ein Geschehen in Gänze oder Teilaspekte eines Geschehens der Erinnerung verschließen; das traumatische Geschehen als solches kann dann nicht erinnert werden. So kann in bestimmten Situationen eine beeinträchtigte Stimmung, ein Missbehagen, eine Dysphorie, Ängstlichkeit oder Ähnliches auftreten, ohne dass der Betroffene dies durch aktive Erinnerung einem entsprechenden Geschehen zuordnen kann. Dies kann als sehr verunsichernd erlebt werden.
Amnesien sind relativ häufig, insbesondere »partielle Amnesien«, also ein auf eine bestimmte Zeit oder bestimmte Eindrücke begrenzter Gedächtnisverlust.
Eine 49-jährige Frau erlitt vor über dreißig Jahren eine Vergewaltigung. Dies geschah am Strand während eines Urlaubsaufenthalts. Sie lebte ihr Leben dann nach außen hin scheinbar unbeeinträchtigt weiter, gründete eine Familie, war berufstätig. Allerdings litt sie unter diffusen Ängsten, einer depressiven Grundstimmung und eingeschränkter sexueller Empfindungsfähigkeit, ohne von den Ursachen dieser Beeinträchtigungen zu wissen. Ohne es begründen zu können, vermied sie all die Jahre, in die Nähe eines Meeres zu kommen. Eine Amnesie hatte alles verborgen.
Ausgelöst durch ein verordnetes Heilbad wurde ihr das Geschehen wieder bewusst. Nach einer dann sehr schweren Zeit konnte eine Bewältigungsarbeit des Erlittenen beginnen.
Vermeidungsverhalten
Ein weiteres Kernsymptom der PTBS kann eine Übervorsichtigkeit oder auch ein entsprechendes Vermeidungsverhalten sein. So werden bestimmte Orte gemieden, die möglicherweise unmittelbar mit dem traumatisierenden Geschehen in Verbindung standen. Ein Betroffener meidet dann beispielsweise Menschenansammlungen oder sucht Geschäfte nur in ruhigen Situationen auf. Er verzichtet auf Fahrten mit dem Aufzug oder Ähnliches oder möchte im Kino ganz am Rand sitzen, um jederzeit schnell den Raum verlassen zu können. Es gibt zahlreiche Formen einer Vermeidung, und viele schränken die Erlebensmöglichkeiten der Betroffenen stark ein.
Auf der anderen Seite können wir dieses Verhalten auch als eine (vorläufige) Lösung bzw. Selbsthilfe sehen: Das Verhalten stellt einen Selbstschutz dar – in gewisser Weise ist es »Not-wendig«.
Schlaf
Der Schlaf kann im Zuge einer PTBS erheblich beeinträchtigt sein. Jede Form von schwerem Einschlafen, unterbrochenem Schlaf, frühem Aufwachen und Ähnliches ist hier denkbar. Albträume können beispielsweise zu einer Angst vor dem Einschlafen