Reisen nach Ophir. Rolf NeuhausЧитать онлайн книгу.
Rolf Neuhaus
Reisen nach Ophir
Von der Suche nach dem Glück in der Ferne
Von Humboldt bis Hesse, von Timbuktu bis Tahiti
Inhalt
I Auf Abwegen und Nebenschauplätzen
1. Verlaufen – Arthur Rimbaud diesseits von Aden
2. Abgetrieben – Alexander von Humboldt zwischen Südsee und Orient
3. Verfehlt – Hermann Hesse jenseits von Indien
II Meer der Träume, Meer der Verzweiflung
4. Das unentrinnbare Ich – Paul Gauguin in Polynesien
5. Zauber und Entzauberung – Das Ende der glücklichen Tage
6. Gefühlsleben eines Feldforschers – Bronislaw Malinowski im westlichen Pazifik
7. Diese Europäer! – Carsten Niebuhr im Glücklichen Arabien
8. Ein Faible für Beduinen – Ladies and Gentlemen im Vorderen Orient
9. Illusionen – Heinrich Barths Weg nach Mombasa (Timbuktu)
10. Die weiβen Wilden – André Gide im Kongobecken
11. Lust und Überdruss – Gustave Flaubert in Ägypten
12. Das Ende der Reisen? – Claude Lévi-Strauss in Brasilien
Ophir
Ophir ist das ferne verlockende Land im Süden, das geheimnisvolle Land des Alten Testaments, aus dem König Salomo Gold für seine Prachtbauten in Jerusalem bezog. Die Stadt Ophir war mit Steinen aus Gold erbaut, denn die Steine in den Bergen jenes Landes waren aus purem Gold. Die Schiffe König Salomos und des phönizischen Königs Hiram von Tyros kehrten nach drei Jahren zurück, voll beladen nicht nur mit Gold, auch mit Edelsteinen, Silber, Elfenbein, Affen und Pfauen, wie das erste Buch der Könige berichtet. Schon die nächste Expedition nach Ophir, von der die Bibel spricht, scheiterte: Die Schiffe König Josaphats von Juda und des gottlosen Königs Ahasja von Israel zerbrachen, noch bevor sie auslaufen konnten. Ebenso scheiterten alle späteren Versuche, Ophir aufzufinden. Kolumbus, der auf seiner ersten Reise Kuba für Japan, auf der zweiten für eine chinesische Provinz, von der Marco Polo gesprochen hatte, und Jamaika für Saba hielt, erspähte Ophir an der Südwestecke Haitis. Die Portugiesen glaubten, Ophir in der goldreichen Hafenstadt Sofala (Mosambik) wiederentdeckt zu haben, Jahrhunderte danach meinte der deutsche Afrikareisende Karl Mauch, die Ruinen Groβ-Simbabwes im Hinterland der Sofala-Küste mit Ophir identifizieren zu können. Im Jahr 1568 stieβ der spanische Seefahrer Álvaro de Mendaña bei der Suche nach dem ominösen Südkontinent auf die Salomon-Inseln, die er so nannte, weil er in ihnen Ophir sah. Ophir ist an vielen Stellen des Erdkreises vermutet worden, in Nubien, Abessinien und Somalia, an der afrikanischen Küste des Roten Meeres, im Jemen und am Persischen Golf, nahe der Indus-Mündung, an der südindischen Malabar-Küste und auf Ceylon, auf der Malaiischen Halbinsel, Sumatra und den Philippinen, in Australien, Peru, Brasilien und an der Westküste Afrikas. Vielleicht existiert Ophir nur in den Köpfen, dort aber gewiss.
Das Traumland Ophir hat viele Verwandte. Aus dem Land Punt, das wahrscheinlich am Horn von Afrika lag, holten die Ägypter seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. Gold, Silber, Ebenholz, Elfenbein, Myrrhe, Weihrauch, Affen und Strauβenfedern. Die Gärten der Hesperiden, in denen die Töchter des Atlas und der Nacht die goldenen Äpfel des Lebens hüteten, lagen wie die Elysischen Gefilde, die Inseln der Seligen, im jeweiligen äuβersten Westen und wanderten mit den Jahrhunderten vom griechischen Arkadien über die Groβe Syrte Libyens zum marokkanischen Atlas, von wo sie sich auf den Atlantik hinausbegaben und vielleicht auf die Kanarischen oder Kapverdischen Inseln verpflanzten. Platons Atlantis mit seinen gold- und silberüberzogenen Mauern des Poseidontempels und des Königspalastes und den unzähligen goldenen Bildsäulen kann – bedenkt man das vielfältige Angebot an Hypothesen – in oder an fast jedem Meer gelegen haben, wenn es die Insel denn überhaupt gegeben hat. Das Märchenland Indien, an dessen Tore Alexander der Groβe klopfte wie an die Pforte des Paradieses, dieses Wunderland mit all seinen Märchenprinzen und zauberhaften Palästen, all seinen Göttern und Gewürzen, erstreckte sich zur Zeit seines christlichen Priesterkönigs, des Presbyters Johannes, der in einem Palast mit Wänden und Fuβböden aus Onyx, mit Gold und Edelsteinen allüberall residierte, nach Westen bis zum Turm von Babel, nach Osten bis zum Aufgang der Sonne, später schrumpfte dieses riesige asiatische Fantasiereich auf das christliche Abessinien in Ostafrika zusammen, dessen Kaisergeschlecht sich aus der Verbindung König Salomos mit der Königin von Saba herleitete, noch später wurde es an den Kongo verlegt, den man nun für einen Paradiesfluss hielt. Arabia felix, die blühende Heimat der Königin von Saba im südwestlichen Wüstenwinkel der Arabischen Halbinsel, war ebenso eine europäische Fata Morgana wie die an Gold und Salz und Sklaven, an islamischer Gelehrsamkeit und muslimischer Toleranz reiche Handelsstadt Timbuktu am Südrand der Sahara und wie jenes Goldland, das seit Kolumbus, Cortés und Pizarro in Amerika lag und Eldorado hieβ und nicht nur in den Anden, am Orinoko oder Amazonas aufgespürt werden wollte, sondern auch in Nordamerika; Hernando de Soto suchte es in Florida, Francisco Vázquez de Coronado in Arizona und Neu-Mexiko, er fand auch die legendären Sieben Städte von Cibolá und Quivira, doch sie waren kein Dorado, vielmehr Lehm-Pueblas armer Indianer. Auf der Suche nach der Terra Australis, dem verheiβungsvollen, aber unauffindbaren Kontinent im groβen Südmeer, entdeckte man lediglich den mickrigsten, obendrein wüstenartigen Erdteil und jede Menge kleiner und kleinster, aber üppiger, paradiesischer Inseln sowie den Edlen Wilden, der sie bewohnen durfte, wie einst nur Heilige auf der ebenfalls unauffindbaren Insel des irischen Mönchs St. Brendan hatten leben dürfen. Und seit der gewöhnliche Sterbliche die Wilden verdorben, wenn nicht ausgerottet hat, jagt er der Wildnis, den letzten Naturparadiesen nach.
Ophir ist das Land, wohin die Träume segeln, ist der Sehnsuchtsort der Ophiten, die Schlangen anbeten und beschwören, ihnen zu verraten, wo sich das Glück befindet, sei es in Form von Gold, Ruhm, Abenteuer, Erkenntnis, Weisheit, Liebe oder Freiheit. Reisen ist die Suche, die Jagd nach Glück in der Ferne, das Glück ist jedoch scheu, es lässt sich nicht zwingen, andernfalls wäre es nicht Glück.