Ägypten. Juergen StryjakЧитать онлайн книгу.
In Barcelona zum Beispiel oder in Tel Aviv wird bei Massenprotesten der Geist des Tahrir-Platzes beschworen. Walk like an Egyptian, so heißt es plötzlich bei Demonstrationen auf anderen Kontinenten. Kurz nach dem Sturz Mubaraks, als die Euphorie noch frisch ist, wirbt der ägyptische Mobilfunknetzbetreiber Mobinil mit einem Zitat von US-Präsident Barack Obama: »Wir müssen unsere Kinder so erziehen, dass sie wie die jungen Ägypter werden.«
Das Obama-Zitat stimmt nicht. Es findet sich nirgends ein Hinweis darauf, dass Obama tatsächlich gesagt hat, die US-Amerikaner sollten ihre Kinder so erziehen, dass aus ihnen Menschen würden, die so sind wie die jungen Ägypter – die sich gerade erfolgreich gegen ihren Autokraten erhoben hatten. Dalia Mogahed, die in Kairo geboren wurde und im Alter von vier Jahren in die USA kam, gehörte ein Jahr lang zu einem Beraterteam Obamas im Weißen Haus. In einem Interview sagte sie: »Ich glaube nicht, dass der Präsident dies wirklich gesagt hat. Der entscheidende Punkt ist, dass die Ägypter dachten, er hätte das gesagt. Es hat sie mit Stolz erfüllt.«
Anderthalb Tage nach dem Sturz Mubaraks putzen Freiwillige den Tahrir-Platz und räumen den letzten Müll weg, Plastikflaschen, alte Decken, Pappen und Papier. Andere streichen die Bordsteine, jetzt ist es endlich ihr Land, um das sie sich kümmern wollen. Der Platz ist längst wieder für den Verkehr geöffnet. Die Demonstranten sind verschwunden, bis auf eine kleine Gruppe, die auf einer übriggebliebenen Bühne vor dem Hardees-Fastfood-Restaurant steht und Sprechchöre skandiert. Einer der letzten Demonstranten ist Aly Bilal, schätzungsweise Mitte 20. Ich frage ihn, warum er den Platz nicht verlässt. »Ich habe Angst«, erwidert er mit Tränen in den Augen. »Ich werde nicht eher zu meiner Arbeit zurückkehren, bevor ich nicht überzeugt davon bin, dass mein Land in sicheren Händen ist. Es ist noch nicht in sicheren Händen.« Den meisten Ägyptern würden Aly Bilals Ängste wohl völlig absurd vorkommen. Zu großartig erscheint ihnen der Erfolg der friedlichen Revolution. Aber dieses Gefühl basiert auf Selbsttäuschung.
Auf dem Weg zur ägyptischen Eiszeit
Nur wenige Jahre später erscheinen einem die Ereignisse wie aus einem uralten Geschichtsbuch. Fast nichts, zumindest nichts Positives, weist heute darauf hin, dass es die Revolution wirklich gegeben hat. Im Gegenteil, viele sind der Meinung, dass die Verhältnisse heute viel schlimmer seien als unter Mubarak. Was lief schief? Einer repräsentativen Erhebung der Meinungsforscher von Gallup zufolge haben 83 Prozent der volljährigen Ägypterinnen und Ägypter im März 2011 den Sturz Mubaraks begrüßt. Wie konnten die Energie, die Sehnsucht nach Veränderung, der Optimismus und vor allem auch der Mut so vieler Leute am Ende so wirkungslos verpuffen?
Allerdings gab es schon am Tag des Rücktritts von Mubarak auch unter den Aktivisten Skeptiker. Die junge, linke und später international preisgekrönte ägyptische Anwältin Mahienour El-Masry erzählte zwei Jahre später dem ägyptischen Portal Ahram Online, was sie damals beim Sturz Mubaraks empfand: »Als wir erfuhren, dass nun die Armee übernimmt, da spürten wir tief in uns, dass das kein gutes Zeichen ist. Ich befürchtete, dass dies nicht das war, wofür wir gekämpft hatten.« Ihr ungutes Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Während der Arbeit an diesem Buch, Anfang 2020, sitzt die mutige Anwältin Mahienour El-Masry bereits das vierte Mal im Gefängnis. 2014 erhielt sie den renommierten Internationalen Ludovic-Trarieux-Preis für Menschenrechte, den europäische Rechtsanwaltsorganisationen jährlich verleihen.
Schon die Revolution war nicht friedlich gewesen. Besonders in den ersten Tagen reagierten die Sicherheitskräfte mit skrupelloser Brutalität. Rund 850 Menschen wurden im ganzen Land getötet, überwiegend Demonstranten, die meisten offenbar am »Tag des Zorns« am 28. Januar. Der Wissenschaftler Neil Ketchley wertete Zeitungsberichte und Videos aus und kam zu dem Ergebnis, dass in den 18 Tagen der Revolution landesweit mindestens 48 Polizeistationen gestürmt wurden, also jede vierte im Land. Mindestens 4000 Polizeiautos wurden von zornigen Demonstranten zerstört, schreibt Ketchley in seinem Buch »Egypt in a Time of Revolution. Contentious Politics and the Arab Spring«, das 2017 im Verlag Cambridge University Press erschien. Die Wut auf die Polizei überrascht nicht, schließlich war es der repressive Polizeistaat, von dem sich viele Ägypter Jahrzehnte lang am meisten gedemütigt und unterdrückt fühlten.
Offenbar hatte die Revolution zwei Seiten, eine friedliche, humorvolle, einnehmende auf dem Tahrir-Platz und eine dramatische, verhängnisvolle an anderen Orten. Aber war die Revolution erfolgreich? Offenbar nicht, denn der machtvolle Volksaufstand hat zwar am Ende dazu geführt, dass Mubarak zurücktrat – oder vom Militär zum Rücktritt gezwungen wurde, bis heute ist das nicht ganz klar. Aber der Aufstand tastete die Machtstrukturen nicht wirklich an. Der Sicherheitsapparat, die Justiz, die Medien und andere, ähnlich wichtige Institutionen befinden sich weiterhin in den Händen von Vertretern des alten Regimes. Das hätte sich später ändern können, wenn nach der Revolution der Wandel und der Umbau der staatlichen Strukturen begonnen hätte. Stattdessen übergaben die Ägypter ihre Geschicke nahezu komplett dem Militär.
Am 28. Januar 2011, bereits drei Tage nach Beginn der Proteste, fuhren abends gegen 18 Uhr Panzer der Armee vor mein Bürogebäude und blieben dort bis zum Sturz Mubaraks. Überall im Land bezogen Armeefahrzeuge an wichtigen Punkten Stellung. Es war der blutigste Tag der Revolution. Als die Panzer in die Innenstädte kamen, wurden sie von vielen Menschen euphorisch und erleichtert begrüßt. Vor meinem Gebäude schlugen Demonstranten rhythmisch auf die Karossen und jubelten. An jenem Abend hörte ich auch zum ersten Mal den Slogan: »Al-shaab wal-geish ’id wahda«, sinngemäß: Das Volk und die Armee Hand in Hand.
Bei Auslandskorrespondenten im Land sorgten diese Szenen für Verwirrung. Wieso begrüßten Demonstranten, die das Regime stürzen wollten, eine wesentliche Stütze desselben Regimes euphorisch? Spontane Erklärungsversuche gab es einige. Die Regimegegner hätten sich von der Armee erhofft, dass sie das Blutvergießen beendet und die junge Revolution schützt. Immerhin seien es vor allem die Sicherheitskräfte des Innenministeriums gewesen, zum Beispiel die der Polizei, die auf Demonstranten schossen. Polizisten erlebten die meisten Ägypter immer als »die anderen«, die für Machtmissbrauch und Willkür stehen. Nicht so die Soldaten. Aufgrund der Wehrpflicht hatte fast jede Familie irgendwann mal einen oder mehrere Söhne als Rekruten bei der Armee. Außerdem sei es über Jahrzehnte ein wesentlicher Bestandteil der Propaganda gewesen, das Militär zu glorifizieren. Das hatte Spuren hinterlassen.
Ein paar Monate später las ich eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters, an der mich am meisten verblüffte, dass sie bereits am 5. Februar 2011 veröffentlicht worden war. Anlässlich der gerade stattfindenden Münchner Sicherheitskonferenz hatte der Korrespondent der Nachrichtenagentur mit Robert Springborg über die dramatischen Ereignisse in Ägypten gesprochen, eine Woche vor dem Sturz Mubaraks, als noch niemand wusste, wie alles ausgehen würde. Was Springborg sagte, erschien mir nahezu prophetisch. Robert Springborg gilt als einer der führenden ausländischen Kenner des ägyptischen Militärs. Heute ist er Gastprofessor in der Abteilung Kriegsstudien am renommierten Londoner King’s College, damals lehrte er als Professor für Nationale Sicherheitsangelegenheiten an der Naval Postgraduate School im kalifornischen Monterey, einer Einrichtung der US-Marine. Man darf also annehmen, dass er sich nicht nur hervorragend auskennt, sondern auch in US-amerikanischen Militärkreisen bestens vernetzt ist.
Der Reuters-Meldung zufolge sagte Springborg, dass das ägyptische Militär gerade zusammen mit dem Westen an der Entmachtung von Hosni Mubarak arbeiten würde, damit die Armee hinter den Kulissen die politischen Verhältnisse auch weiterhin dominieren könne. Der Zorn der Regimekritiker solle sich gegen Mubarak richten und nicht gegen das gesamte vom Militär kontrollierte System. Der Präsident werde den Demonstranten als Opfer präsentiert, während das Militär die Rolle des Retters der Nation übernehmen könne. Springborg erklärte weiter, er habe den Eindruck, dass die USA und Europa bereit dazu seien, sich mit der Macht des ägyptischen Militärs im Land zu arrangieren, auch wenn dies die Hoffnungen der Ägypterinnen und Ägypter auf einen demokratischen Wandel zerstören könnte. »Das Militär wird die Nachfolge Mubaraks einfädeln. Auch die USA und Europa arbeiten in diese Richtung.«
Und was ist dann mit den Aktivisten und jenen Millionen, die gegen das Regime wochenlang auf die Straße gegangen