Sophienlust Extra 12 – Familienroman. Gert RothbergЧитать онлайн книгу.
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Strahlende Morgensonne lockte die Kinder von Sophienlust an die Fenster. Es war wichtig für sie, sich beizeiten umzusehen, ob es an diesem Tag Badewetter gab. Denn die Heimleiterin und Schwester Regine hatten versprochen, mit ihnen am Nachmittag zum See zu fahren.
Pünktchen beugte sich aus dem Fenster. »Auf der Straße stehen so viele Leute beisammen. Ich möchte nur wissen, was die so früh am Morgen schon zu ratschen haben.«
Der kleine Henrik von Schoenecker sah das hübsche sommersprossige Mädchen keck an. »Du musst dich gerade aufregen, Pünktchen. Ihr Mädchen ratscht doch auch immer. Und wenn ich dann wissen will, worüber ihr ratscht, dann seid ihr auch noch so gemein und sagt es nicht einmal.« Er stieß Pünktchen an. »Hörst du mir gar nicht zu? Du wirst noch aus dem Fenster stürzen, wenn du dich so weit hinausbeugst. Das sollte ich mal tun! Da ginge gleich jemand zu Mutti petzen.«
Pünktchen drehte sich wütend um. »Alter Quasselphilipp! Deinetwegen habe ich jetzt nicht alles verstehen können. Ich glaube, ein Kind ist überfahren worden. Ich muss hinunter.« Schon flitzte Pünktchen durch den Aufenthaltsraum. Henrik und eine Schar anderer Kinder hinter ihr drein.
Pünktchen kam als erste bei den durcheinanderschwatzenden Leuten an. Sie tippte einem Mädchen aus dem Dorf Wildmoos, das wie sie das Gymnasium besuchte, auf die Schulter, und fragte: »Was ist denn passiert?«
Das Mädchen war ganz blass im Gesicht und gab keine Antwort. Pünktchen musste erst noch fragen: »Ist wirklich ein Kind überfahren worden?«
»Ja. Vor dem Ortseingang angeblich. Es soll vor ein Auto gelaufen sein. Es ist schon in Maibach im Krankenhaus. Aber das ist noch nicht alles. An der Stelle, wo das kleine Mädchen verunglückt ist, hat man eine tote Frau gefunden. Wahrscheinlich die Mutter des Kindes.«
Henrik schüttelte Pünktchen am Arm und fragte: »Was ist los?« Doch er bekam keine Antwort. Pünktchen zuckte nur die Schultern und ging ins Kinderheim zurück.
Zur gleichen Zeit fuhren zwei Wagen durch die Einfahrt. In dem einen saß Denise von Schoenecker, in dem anderen die Ärztin von Sophienlust, Dr. Anja Frey.
Die beiden Frauen begrüßten einander wenig später vor der Freitreppe und gingen ins Haus. Anja Frey begleitete Denise von Schoenecker in den Biedermeiersalon.
»Haben Sie schon von dem Unfall gehört, Frau Doktor?«, fragte Denise.
Anja Frey lehnte sich im Sessel zurück und seufzte. »Nicht nur gehört. Ich habe das Kind und auch die Tote gesehen. Ich wurde gerufen und komme gerade aus dem Krankenhaus. Mit Absicht bin ich in Sophienlust eingekehrt. Um mit Ihnen zu sprechen. Das Kind ist nur leicht verletzt. Es könnte in häusliche Pflege entlassen werden. Sie werden jetzt schon erraten, woran ich denke, Frau von Schoenecker.«
Denise strich sich durch das schwarze Haar. »Meinen Sie, dass wir das Kind hier aufnehmen sollten?«
»Zumindest vorübergehend, bis sich geklärt hat, wohin es gehört. Im Augenblick kann das niemand feststellen. Die Frau hatte keinerlei Papiere bei sich. Nur einen abgebrochenen Brief. Aber aus diesem scheint man keine Schlüsse ziehen zu können. Die Polizei hat den Brief an sich genommen.«
»Was ist der Mutter passiert, Frau Doktor?«
»Sie ist an einem Herzversagen gestorben. Ich glaube, das kann man jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit sagen. Zumindest waren die Kollegen im Krankenhaus mit mir einer Meinung.«
Denise von Schoenecker sah sehr erschrocken aus. »Heißt das, dass die Frau schon längere Zeit tot an der Straßenböschung gelegen haben kann?«
Anja Frey nickte. »Ja, wahrscheinlich. Es ist eine jüngere Frau. Ich schätze, dass sie dreißig bis vierzig Jahre alt ist. Sie könnte durchaus die Mutter des kleinen Mädchens sein.«
»Und wie alt ist das Kind?«, fragte Denise.
Anja Frey sah etwas hilflos aus. »Vielleicht zwei Jahre, vielleicht auch etwas älter. Es spricht gut, aber das Alter konnte es uns nicht sagen. Nur den Namen. Es heißt Gritli. Den Familiennamen weiß es jedoch allem Anschein nach auch nicht. Oder es steht noch zu stark unter dem Schock.«
»Gritli?«, sinnierte Denise von Schoenecker. »Könnte das Kind nicht aus der Schweiz stammen? Dort findet man diese Abkürzung öfter. Bei uns hört man den Namen eigentlich selten.« Denise stand auf. »Sie werden in Ihre Praxis müssen, Frau Doktor. Am besten ist es, ich fahre gleich nach Maibach.«
Auch Anja Frey erhob sich. »Ich bin beruhigt, dass Sie sich um das Mädchen kümmern wollen, Frau von Schoenecker, denn ich habe das ungute Gefühl, dass man so schnell nicht herausfinden wird, wohin das Kind gehört. Der Fall erscheint mir recht mysteriös. Aber vielleicht irre ich mich auch. Ich stehe wahrscheinlich noch unter dem Eindruck, den das Mädchen auf mich gemacht hat. Es ist ein so liebes kleines und hilfsbedürftiges Ding. Es hat fast weißblondes Haar und tiefblaue Augen. Und wenn Kinder etwas nicht begreifen können, klagen einen immer ihre Augen an.«
Die Ärztin und Denise von Schoenecker verließen zusammen das alte Herrenhaus von Sophienlust. Erst als sie in ihren Wagen saßen, trennten sich die Wege der beiden Frauen.
Denise von Schoenecker fuhr nach Maibach. Sie musste sich bemühen, auf den Straßenverkehr zu achten, denn in ihren Gedanken war sie schon bei dem Kind. Würde es wirklich so sein, dass sie einen neuen Schützling nach Sophienlust holte? Wie oft hatte sie das schon getan, seitdem sie das Kinderheim leitete.
Für Sekunden legte sich ein dankbares Lächeln um den Mund der schönen Frau. Es machte sie glücklich, nicht nur ihren Mann und ihre Kinder umsorgen zu dürfen, sondern auch all die armen verlassenen Kinder, die in Sophienlust Geborgenheit suchten. Schon in vielen tragischen Fällen hatte sie helfen können. Oft auch dort, wo die Eltern sich zerstritten hatten oder wo ein Elternteil ratlos vor der Verantwortung stand, einem Kind nun beides sein zu müssen – Mutter und Vater.
Jetzt atmete Denise von Schoenecker erleichtert auf. Denn sie dachte daran, dass Sophienlust so manches Mal auch nur Zwischenstation für ein vereinsamtes Kind gewesen war. Wie würde es bei der kleinen Gritli sein?
Im Foyer des Krankenhauses traf Denise von Schoenecker mit Polizeimeister Kirsch zusammen, den sie gut kannte. Sie fragte ihn, ob man inzwischen wisse, wohin das Kind gehöre und wer die Tote sei. Der Polizeimeister zuckte die Schultern. »Es wird schwer sein. Wir haben keinen Anhaltspunkt. Wir werden wohl darauf warten müssen, dass die Frau und das Kind gesucht werden. Irgend jemand muss sie ja bald vermissen. Das gibt es doch nicht, dass man sagen kann, ein Kind ist von nirgendwoher.«
»Sind Sie noch immer nicht sicher, dass die Tote auch wirklich die Mutter des kleinen Mädchens war?«, fragte Denise.
»Das Mädchen spricht von seiner Mutti, sodass man annehmen kann, es meint die Tote. Aber was halten Sie davon?« Der Polizeimeister holte einen Briefbogen aus seiner Rocktasche und reichte ihn Denise von Schoenecker.
Der Briefbogen war mit wenigen Zeilen beschrieben. In einer großen und sehr flüchtig wirkenden Handschrift. Denise las: »Liebe Schwester, ich habe mich entschließen müssen, Gritli nun zu ihrer Mutter zurückzubringen. Ich kann nicht anders. Es geht mir gesundheitlich so schlecht, dass …«
Jetzt sah Denise von Schoenecker hilflos aus. »Das ist nicht viel«, sagte sie in Gedanken. »Und wer kann dafür bürgen, dass dieser Brief auch von der Frau geschrieben wurde, die nun tot ist?«
»Eben, das ist es ja.« Der Polizeimeister steckte den Brief wieder ein. Er sah Denise von Schoenecker forschend an. »Sind Sie wegen des Mädchens gekommen?«
»Ja, Frau Dr. Frey sagte mir, dass es nicht im Krankenhaus zu bleiben braucht. Ich würde das Kind gern nach Sophienlust nehmen, bis der Fall geklärt ist. Werde ich die Erlaubnis dazu bekommen?«
Der Polizeimeister lachte. »Dachte ich mir’s doch. Das nehme ich auf meine Kappe, dass Sie das Kind gleich mitnehmen können. Hier im Krankenhaus wird jedes Bett gebraucht, und niemand hat Zeit, sich so mit dem Kind zu beschäftigen, wie das notwendig wäre. Wo könnte es aber besser aufgehoben sein als in Sophienlust? Kommen Sie, Frau von Schoenecker. Ich sorge dafür, dass Ihnen die kleine Gritli übergeben wird.«
Es dauerte nur Minuten,