Fürstenkrone 80 – Adelsroman. Gabriela SteinЧитать онлайн книгу.
weiter. Ich wollte ihn nicht in Gewissensnöte bringen, denn seine Bindung an eine kranke Frau und einen halbwüchsigen Sohn ließ das nicht zu.
»Wie edel«, murmelte Gloria ohne Verständnis. War sie denn so wenig wichtig gewesen?
Ich zog einen scharfen Schnitt – und habe ihn nie wiedergesehen …, stand da, und das Schriftbild verlor einen Moment lang seine Haltung, als hätten Gefühle besonderer Art es erschüttert.
Gloria sah lange auf diese Zeilen. Da hatte sie also einen biologischen Vater, der von ihrer Existenz nichts wusste! Zudem war ihr mit dieser späten Beichte ihrer Mutter der Ersatz-Vater genommen – ohne zum leiblichen eine Brücke zu bauen.
Meine eigene Situation wurde von Deinem geliebten Ziehvater Albert de Vries aufgefangen, teilte die Schreiberin mit. Er warb um mich und mein ungeborenes Kind und schenkte uns in der Folge seine ganze Liebe und Umsicht. Ja, er wurde zum wundervollen Vater für Dich. Aber das weißt Du ja.
Ist es da nicht zu verständlich, dass es mir in der Folge unmöglich war, Dich aufzuklären? Für Albert warst Du sein Kind, und er Dein Vater – nur so schien es richtig.
Der Versuch einer Rechtfertigung lag in diesen Zeilen und doch auch wieder dieser Zwiespalt.
Mit dem Tod wäre nun der Zeitpunkt der Aufklärung gekommen gewesen, überlegte die Schreiberin. Denn Du musstest doch die Wahrheit über Deine väterliche Herkunft erfahren! Aber Du trauertest so sehr um Deinen geliebten Ersatz-Papa, hieltst sein Andenken so hoch – wie konnte ich das zu diesem Zeitpunkt zerstören?
Nachdenken schien einen Moment lang die Feder anzuhalten, bevor Elise de Vries das späte Geständnis fortsetzte:
Stattdessen schreibe ich diese Zeilen nieder, stand da. Diese hinterlege ich bei unserem lieben Freund Henry Kröger. Er wird sie sicher verwahren, bis einer von uns den Mut aufbringt, sie Dir zu überreichen …
Gloria hob den Blick und sah den Rechtsanwalt ihrer Familie an. Unverständnis lag in ihren Augen.
»Fünf lange Jahre!«, sagte sie. »Ist das nun Feigheit oder falsche Rücksichtnahme, Onkel Henry? Denn meine Trauer um Albert de Vries hat sich längst beruhigt.«
Der Angesprochene räusperte sich. Er wusste, wie diese junge Frau sich fühlte. Dennoch versuchte er beruhigend auf sie einzuwirken:
»Ich erwähnte bereits die menschlichen Urängste in uns, Geliebtes zu verlieren, mein Kind. Aber auch gegebene Versprechen spielen eine Rolle und der unbedingte Wunsch, deinem leiblichen Vater keinen Schaden zuzufügen. Was bedeutet, nicht in bestehende Familienstrukturen einzugreifen.«
»Du meinst, Anerkennung, Erbansprüche und ähnliches?«
»Zum Beispiel.«
Gloria sah mit wachsender Bitternis auf die Zeilen ihrer Mutter. Auf deren klares Schriftbild und das ganz und gar nicht klare Verhalten.
Ach, hättest du doch geschwiegen! dachte sie, bevor sie sich dem letzten Anliegen dieses Bekenntnisses stellte.
Bitte, mein Kind, stand dort, halte es so wie ich und konfrontiere das Haus Thornbach nicht mit Deiner Existenz. Meine Liebe zu Carl-Philipp von Thornbach soll eine Liebe ohne Anspruch und Verpflichtung bleiben.
»Wie edel, wie edel, liebe Mama!« Glorias Stimme lud sich mit bitterer Ironie auf. »Das fürstliche Malheurchen wird unter den Teppich gekehrt, damit alle anderen ihren Seelenfrieden haben. Nur wie sich das Malheurchen dabei fühlt, ist wohl nicht so wichtig, wie?«
Wieder erhob sie sich und suchte erneut den Ausblick auf die Alster, auf die ruhig dahingleitenden Boote. Nur diesmal beruhigte der traumschöne Blick sie nicht.
War nicht ohnehin alles nur Schein?
Rasch kam sie an den Tisch zurück, eine attraktive junge Frau in heller Kleidung. Erneut griff sie nach dem späten Geständnis ihrer Mutter, las nur noch mäßig interessiert deren letzte Zeile: In Liebe, Deine Mama. Dann ein scharfer Laut, als sie das Blatt zerriss – und auf die Tischfläche fallen ließ.
»Entschuldige, Onkel Henry«, murmelte Gloria und verließ mehr laufend als gehend das Büro.
»Aber, Kind!«, rief der alte Herr ihr erschrocken nach, bevor er ratlos nach den beiden Hälften des folgenschweren Briefes griff – um sie automatisch wieder zum Ganzen zusammenzufügen.
Er wusste, die späte Wahrheit hatte drei Personen beschädigt: Die bis dahin geliebte Mama, den vergötterten Vater, der nicht der Vater war – und einen Unbekannten, der ein Vergnügen gesucht hatte und von den Folgen keine Ahnung besaß.
Ratlos verließ Henry Kröger die Räume seiner Kanzlei und stieg durch das hochherrschaftliche Haus die Stufen zu seiner Privatwohnung hinauf. Er musste mit seiner Frau Julia reden. Vielleicht hatte sie eine Idee, wie die heraufbeschworene Identitätskrise einer jungen Frau zu besänftigen war.
*
Die Mittagssonne stand über dem Land und bescherte sommerliche Wärme. Schönes Schleswig-Holstein! Land zwischen den Meeren mit einem weiten Himmel und satten Farben zu seinen Füßen.
Gloria de Vries ließ langsam den Wagen ausrollen. Fast zögernd geschah das, und fasziniert blickte sie auf eine weite Anlage, welche wie ein Reich für sich wirkte.
Sie hatte Schloss Thornbach erreicht! Und sie spürte ihr Herz schlagen. Dieses Herz, welches seit einer Woche so zerrissen war wie nie zuvor.
Ihr ganzes Leben war ins Schwimmen geraten. Der bisher so sicher gewähnte Boden ein einziger schwankender Grund. So hatte sie sich nicht einmal beim Tode ihrer Mama gefühlt. Denn ihr vermeintlich so sicheres Elternhaus hatte Risse bekommen. Es bot den Halt nicht mehr, der doch eigentlich für ein Leben hätte ausreichen müssen.
Albert de Vries war nicht ihr leiblicher Vater! Diese Tatsache schmerzte sie unendlich, weil sie ihn abgöttisch geliebt hatte. Und Mama? War ihr Leben nur Hingabe und Anpassung gewesen?
Darüber würde nun kein Gespräch mehr zu führen sein. Eine vertane Chance, welche so wichtig für sie gewesen wäre.
Eingespannt in einen Knäuel widerstreitender Gefühle blickte Gloria hinüber zu der prachtvollen Anlage.
Zwischen zwei Torhäusern gelegen, strebten die mächtigen schmiedeeisernen Flügel der Zufahrt in den Himmel, gekrönt mit einem aufgebrachten Familienwappen. Vergoldet strahlte dieses Symbol einstiger Herrlichkeit zu ihr hin, wirkte freundlich und entgegenkommend.
Die stille Betrachterin hinter dem Steuer ihres Wagens lächelte bitter.
Freundlich und entgegenkommend? Was man sich doch so alles einbilden konnte!
Ach, Mama! Wie konntest du dich mit Protz und Prunk nur einlassen?
Und jetzt stand sie hier! Sie, Gloria, das Malheurchen eines kleinen Abenteuers. Eine Antwort suchend, ein Gesicht, welches so zu ihr gehörte wie die andere Hälfte ihrer Existenz, ihre Mama.
Tiefe Ratlosigkeit erfüllte sie.
Das filigrane Gitterwerk der Torflügel lag auf einer Linie mit dem Haupteingang, seinem säulengetragenen Portikus, dem umlaufenden Sims, hell abgesetzt zum Lichtgelb der Gebäude. Ein Ausschnitt wie eine Visitenkarte, leuchtend und auf den ersten Blick alles sagend.
Gepflegte Vornehmheit lag über allem. Dem mächtigen Hauptgebäude, den Seitenflügeln mit Pavillons und der repräsentativen Zufahrt.
Geradlinig durchschnitt diese Zufahrt zwei kultivierte Rasenflächen und mündete auf dem Schlossplatz. Wenige Wagen standen dort, parkten glänzend in der Sonne.
Stille lag über der Anlage. Vornehmheit vertrug sich nicht mit Betriebsamkeit. Und Neugier nicht mit wirklicher Noblesse.
Was aber hatte sie hergetrieben? War es nicht auch Neugier gewesen. Die Suche nach einer Erklärung?
»Mach dir ein Bild!«, hatte am Morgen Constanze von Bellwange, die getreue Freundin und Mitarbeiterin, ihr geraten. »Die ganze Geschichte muss ein Gesicht bekommen.« Nachdrücklich hatte sie gesprochen, während sie den