Steh' endlich auf!. Martin FieberЧитать онлайн книгу.
wollte Freiheit und bekam ein Auto,
ich wollte einen Sinn und bekam eine Karriere,
ich wollte Hoffnung und bekam Angst,
ich wollte ändern und erhielt Mitleid,
ich wollte leben ...
(Gedicht eines Abiturienten)
Bis zu meinem 25. Lebensjahr führte ich ein ‚normales’ irdisches Leben. Ich bekam eine Schultüte, war leidenschaftlich Kapitän in meiner Fußballmannschaft, spielte leidenschaftslos Klavier, sammelte Altpapier in meiner Nachbarschaft, hatte meistens einen Dreierschnitt in der Schule, diente nach dem Abitur in einem kalten, verregneten Dorf in Oberhessen meinem Geburtsland, trat aus der Kirche aus, machte eine Industriekaufmannslehre in meiner Geburtsstadt. Und hätte ich nicht vor ungefähr sechs Jahren gekündigt, würde ich dort auf meine Pensionierung warten. Meine Seele wäre längst verödet auf der Strecke geblieben. Aber zum Glück fügte es das göttliche Geschick, dass meine Öde im Leben in Form von Reiki mein Leben verschönerte.
Aber bevor ich von meinem neuen Leben erzähle, möchte ich kurz ein Ereignis aus meiner Kindheit schildern, das mich prägte und wahrscheinlich so passieren musste, damit ich die Erfahrungen lernen kann, die ich mir vor meiner Geburt ausgesucht hatte.
Dieses Erlebnis hatte ich ganz aus meinem Bewusstsein verdrängt. Damals war ich drei Jahre alt. Ein Junge aus meiner Nachbarschaft kam auf mich zu und stieß mich ohne Grund vor die Brust. Ich fiel auf den Hinterkopf und fing von diesem Moment an zu stottern. Nur ganz wenige Worte bekam ich danach ohne Stottern heraus. Dies hatte zur Folge, dass ich mich in meiner Zurückgezogenheit noch mehr in mich zurückzog. Mein vermeintlicher Minderwert sprengte alle Grenzen und ich wurde feige, ich wurde unterwürfig. Somit hatte ich noch mehr Angst, obwohl ich schon mit diesen Gefühlen auf der Erde angekommen war. Ich hatte noch mehr Angst vor Menschen. Die Angst hatte nun vollends mein Leben fest im Griff. Angst, grundlos von anderen Menschen umgestoßen und verletzt zu werden. Das Stottern verschwand zwei Jahrzehnte später. Die Angst aber blieb. Und meine Seele blieb damals auf dem Boden liegen. Sie hatte Angst, wieder aufzustehen.
Meine schon immer vorhandene Lebensunfähigkeit war wieder aufgebrochen. Ich zog mich wie ein Autist in meine eigene Welt zurück und wollte nie wieder herauskommen. Nie wieder wollte ich meine sichere, aber lebensfeindliche Welt verlassen. Ich fühlte mich wertlos, allein, dumm und ganz klein. Ich war feige, unterwürfig und vegetierte vor mich hin. Und doch wusste ich, dass tief in mir etwas Wunderschönes versteckt liegt. Wo ist es, und welchen Sinn meines Lebens gab mir Gott mit auf diese Erdenreise? Und genau das machte mich noch trauriger, weil ich nicht an dieses Schöne herankam. Ich hatte Angst zu leben, Angst mich zu freuen und Angst, alles falsch zu machen. Ich probierte nichts Neues aus, denn somit konnte auch wenig daneben gehen. So verbrachte ich meine Jugendzeit in meinem selbstgebastelten Gefängnis. Mein Gott, wie viel meines Lebens habe ich verängstigt verschlafen? Es schien mir, als ob meine Seele immer noch auf diesen kalten Pflastersteinen lag, wo mich der Nachbarsjunge umgestoßen hatte.
Am Tor des neuen Lebens
Die schönste und tiefste Rührung, die wir empfinden können, ist das Erfahren des Mystischen. Sie ist der Säer aller wahren Wissenschaft. Wem diese Rührung fremd ist, wer sich nicht länger wundern, nicht länger in verwirrter Ehrfurcht dastehen kann, ist so gut wie tot. (Albert Einstein)
Mit 25 fing mein eigentliches Leben an. Mein Tor in die neue Welt war Reiki. Eine Methode des Handauflegens. An diesem Wochenende, an dem ich Reiki erlernte, hatte ich zum ersten Mal kurz Kontakt zu diesem wunderschönen Etwas in mir. Ein Licht durchflutete mich und mir wurde bewusst: Gott existiert. Ich bin hier auf der Erde, weil ich es so wollte.
An Gott hatte ich immer geglaubt. Aber mehr aus dem Kopf als aus dem Herzen. Ich hatte auch mehr schlecht als recht den Konfirmandenunterricht über mich ergehen lassen, aber ein richtiger Glaube kam nie zum Vorschein. Auch in der Schule im Religionsunterricht war nichts Übersinnliches, Mystisches zu finden, was mich im Innersten meiner Seele anrührte. Dafür ging in meinem Heimatort das Gerücht um, dass mein zuständiger Pfarrer seine Frau betrog. Meine Kirche, so kam es mir immer vor, war eine umgebaute Turnhalle. Kalt, steril, muffig. Ebenso war ich immer traurig darüber gewesen, dass unsere Kirche keinen Kirchturm und keine bunten Fenster hatte. Die Glocken befanden sich in einem fünfzig Meter entfernten Gestell, das den Trägern der Wuppertaler Schwebebahn glich. Und die Fenster hatten die Größe von Möbelhaus-Schaufenstern. Farben gab es in der Kirche nicht. Nirgends war ein Heiliger Geist zu entdecken, so sehr ich mich auch anstrengte. Wie sollte man unter solchen Voraussetzungen nur auf die Idee kommen, Gott zu suchen?
Jetzt weiß ich es. Im Menschen selbst, aber mein Seelsorger hatte es mir nie gesagt. Er sorgte sich um alles andere, aber nicht um meine Seele. Niemals im Konfirmanden-Unterricht hatte ich das Gefühl, dass wir etwas Heiliges berührt hätten, etwas Schönes, das die Seele erleuchtet hätte. Niemals hatte ich die Freude, etwas über die Botschaft von Jesus Christus zu erfahren, es wurde nur gebüffelt.
Alles Lebendige war in diesen Jahren meiner Jugend gestorben. Nein fast alles, denn zum Glück gab es die „Bravo“, die mich auf andere Bereiche meines Lebens vorbereitete.
Trotzdem suchte ich nach einem Sinn in meinem Leben. Aber meine Seele fand nichts. Bis eben zu diesem Reiki-Wochenende. Meine Reiki-Lehrerin brachte mir mit ihrer lustigen Art neben Reiki vor allem die Existenz einer Geistigen Welt näher. Die Existenz von Gott. Und sie erzählte andauernd von Wiedergeburt und Karma. Und dass wir eine unsterbliche Seele haben und wir niemals sterben. Damit wurde an diesem Wochenende innerhalb einiger weniger Stunden eine riesige Angst in mir zerstört.
Immer, wenn ich früher auf der Toilette saß (warum mir diese Gefühle immer nur auf der Toilette kamen, ist mir auch schleierhaft, auch wenn ich mir jetzt ein bisschen blöd vorkomme, dies so zu schreiben, aber die Gefühle waren nun mal da), hatte ich das Gefühl, dass ich nur dieses eine Leben habe, diese 70 Jahre, in denen ich gerade hier lebe. Das Universum existierte schon immer und wird auch noch weiter existieren. Aber ich werde in einem riesigen schwarzen Loch unter mir verschwinden. Dieses Loch wird mich einsaugen und innerhalb weniger Sekunden in ein Nichts umwandeln. Ich wäre für immer aus diesem Universum verschwunden. Für immer und ewig? Nein. Jetzt wurde ein Funken in mir entzündet, den ich aber noch nie bemerkt hatte. Ich war am Leben. Und werde immer leben.
Leben. Bisher glaubte ich, jetzt sind wir hier und danach ist alles zu Ende. Mir wurde immer klarer, wie sehr es ein geistiges Leben gibt, nicht nur ein geistiges Weiterleben, sondern auch ein Leben vor diesem hier. Jetzt erst wußte ich, dass es eine geistige Welt gibt, die uns beschützt und dafür sorgt, dass wir unsere Aufgaben, die wir uns für dieses Leben vorgenommen haben, auch erhalten. Jetzt erst verstand ich, dass jeder Mensch einen Schutzengel hat, der uns bei Gefahrensituationen so inspiriert, dass wir gar nicht erst in diese Situation geraten oder dass wir wieder heil daraus hervorgehen. Jeder kann bestimmt viele dieser Momente seines Lebens aufzählen, wie sich Dinge ereignet haben, die an ein kleines „Wunder“ grenzen. Ohne zu wissen, wer dahinter steckt. Eine innere Welt tat sich mir auf. Eine ganz dunkle Erinnerung in Form von ganz schwachen Bildern kam an die Oberfläche meines Bewusstseins, wie es in der Welt da „oben“, die eigentlich direkt neben uns existiert, so ist. Sehr farbenfroh, sehr ruhig, jeder Wunsch erfüllbar. Viel Zeit. Das eigene Gewissen teilt unserem Geist die guten wie auch die nicht so guten Taten in unserem Leben mit. Wir können im geistigen Reich auf einmal unsere eigenen Gedanken sehen, wir können uns ein Bild machen, dass jeder Gedanke, den wir denken, auch wahrhaft existiert und seinen Empfänger findet. Ob es ein guter oder auch ein hässlicher Gedanke ist. Alles dies war mit total neu – und doch so bekannt.
Jetzt hatte ich das Gefühl, dass sich meine Seele endlich ausbreiten konnte. Ich kaufte mir viele Bücher und immer mehr Welten taten sich mir auf. Ich wollte wissen, wissen, wissen. Ich saugte alles auf, was mir zusagte. Nach einigen Monaten war ich der Meinung, alles zu wissen, worauf es im Leben ankommt. Denkste! Es war in meinem Kopf , aber nicht in meinem Herzen. Und der Weg vom Kopf ins Herz ist der gefährlichste Weg auf der ganzen Welt. Die gefährlichste Reise, die wir jemals in unserem Leben antreten