Sophienlust 315 – Familienroman. Anne AlexanderЧитать онлайн книгу.
fand, es ging ja eigentlich ganz einfach!
»’nug!« Melissa wehrte den nächsten Löffel mit der Hand ab. »Satt!« Sie preßte die Lippen zusammen.
»Aber sie hat doch noch kaum etwas gegessen«, meinte Harald, als Christine den Teller wegschob. »Sie kann doch noch nicht satt sein.«
»Glaube mir, Meli weiß recht gut, wann sie satt ist«, erwiderte Christine. »So ein kleines Kind hat noch ein sehr natürliches Verhältnis zur Nahrung. Wir wollen sie nicht zum Essen zwingen, sonst könnten wir uns einen kleinen Nimmersatt erziehen.«
»Bei mir zu Hause hieß es, der Teller wird leer gegessen«, erklärte Harald. »Und bin ich vielleicht ein Nimmersatt geworden?«
Christine puffte ihn liebevoll in die Seite. »Du setzt an, mein Schatz, du setzt an!« Sie zwinkerte ihm zu. »Was meinst du, Meli, sollen wir den Papa auf halbe Portion setzen?«
»Bonbon!« Melissa schlug die Händchen zusammen. »Meli will Bonbon!«
»Ich denke, sie ist satt?« kam es von Harald. Er griff in seine Hosentasche und holte eines der Bonbons heraus, die er unterwegs gekauft hatte. »Hier, mein Schatz«, sagte er und schob der Kleinen die Süßigkeit in den Mund.
»Ich hörte etwas von konsequent«, scherzte Christine.
»Damit können wir ab morgen beginnen«, schlug Harald vor. Er seufzte auf. »Wer kann so einem Engelchen schon widerstehen?«
Das Engelchen lachte ihn an und verlangte auf seinen Arm genommen zu werden. Kaum hatte es den Platz gewechselt, küßte es den Papa ungeachtet des Bonbons, den es im Mund hatte.
»Iii, du Ferkelchen!« Harald hielt die Kleine von sich ab und stellte sie zu Boden. »Du bist reif für die Badewanne, weißt du das?« fragte er und fuhr Melissa durch die hellblonden Haare. »Darf der Papa dich baden?«
»Und Mami!« verlangte Melissa.
»Sieht du, sie ist diplomatisch«, sagte Christine glücklich.
Sie nahm Melissa an die Hand und führte sie ins Bad.
*
»Guten Tag, Frau Walter!« Irene Petzold blieb stehen. Neugierig schaute sie Melissa an. »Haben Sie Besuch, Frau Walter? Eine Nichte?«
Sie streckte dem kleinen Mädchen ihre Hand entgegen. »Wie heißt du denn, mein Kleines?«
Melissa verbarg ihr Gesicht in einer Falte von Christines weitem Kleid. Verlegen steckte sie einen Finger in den Mund.
»Etwas schüchtern, das Kind«, bemerkte die Nachbarin.
»Wie alle Kinder in diesem Alter«, verteidigte Christine die kleine Tochter.
Frau Petzold war die dritte Nachbarin, der sie innerhalb von zehn Minuten Rede und Antwort stehen mußte. Früher hatte man sich nicht um sie gekümmert, aber plötzlich schien das anders geworden zu sein.
»Wie alt ist Ihre Nichte denn, Frau Walter?«
»Melissa ist zwei«, antwortete Christine, »aber sie ist nicht meine Nichte, sondern meine Tochter.«
»Ihre Tochter?« Irene Petzold stutzte. »Ich dachte, Sie hätten keine Kinder!«
»Mein Mann und ich werden Melissa adoptieren«, erklärte Christine. »Sie lebt seit gestern bei uns. Wir haben sie von Sophienlust geholt, einem Kinderheim.
»Ein Adoptivkind«, sagte Irene Petzold gedehnt. »Ehrlich, Sie und Ihr Mann haben Mut, Frau Walter. Ich weiß nicht… Ich meine, man weiß doch nie, was bei so einer Adoption herauskommt. Wissen Sie wenigstens, wer die Eltern sind?«
»Ja!« Christine nickte. »Melissas Mutter ist an einer Lungenentzündung gestorben.«
»Und der Vater hat sie dann so einfach weggegeben?«
»Sie ist unehelich«, bekannte Christine ruhig.
»Unehelich«, wiederholte Irene Petzold, als wäre dieses Wort etwas Anstößiges. »Also, ich weiß nicht recht, Frau Walter, hoffentlich haben Sie sich da kein Kuckucksei ins Nest gesetzt.«
»Auch ein Kuckuck ist ein schöner Vogel«, konterte Christine. Sie ärgerte sich zwar über die Nachbarin, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Harald und sie hatten vorausgesehen, daß nicht alle Leute ihren Entschluß verstehen würden. Es gab noch immer Menschen, die glaubten, ein Heimkind wäre ein Kind zweiter Klasse.
»Wir haben hier einen Mütterclub, Frau Walter«, sagte Irene Petzold. »Hätten Sie nicht Lust, ihm beizutreten? Wir treffen uns ein-, zweimal in der Woche.«
Diesem Club würden sicher nicht nur Frauen wie Irene Petzold angehören. Deshalb entschied Christine: »Gut, ich komme gern einmal. Allerdings möchte ich nicht gleich fest beitreten. Ich möchte erst einmal sehen, um was es da so geht.«
»Das ist selbstverständlich, Frau Walter.« Irene Petzold kramte in ihrer Handtasche und zog einen Bonbon heraus. »Na, Melissa, wie wär’s mit einem Bonbon?« fragte sie süß.
Melissa hob das Köpfchen. Blitzschnell langte sie zu und hatte den Bonbon schon in der Hand.
»Na, und wie sagt man?« fragte Irene Petzold.
Sofort vergrub Melissa ihr Gesichtchen wieder im Rock der Mutter.
»Sie sollten ihr unbedingt das Wort danke beibringen, Frau Walter«, meinte die Nachbarin pikiert. »Gerade ein Kind wie Ihre Kleine hat allen Grund, dankbar zu sein.«
»Kein Kind hat Grund, dankbar zu sein«, widersprach Christine ihr heftig. »Kein Kind kann etwas dafür, daß es in die Welt gesetzt wurde.«
Irene Petzold lachte auf, aber es war ein falsches Lachen. »Ich sehe schon jetzt, die nächsten Nachmittage im Club werden ziemlich farbig werden. Aber jetzt muß ich gehen. Renate hat Halsentzündung. Wegen des Clubs rufe ich Sie an.«
»Gut, danke!« Christine umfaßte die Hand ihrer kleinen Tochter noch fester. »Ich muß jetzt auch weiter«, sagte sie, weil Irene Petzold trotz ihrer Eile keine Anstalten machte, weiterzugehen.
»Auf Wiedersehen!«
»Ade, ade!« rief Melissa, nachdem sie schon einige Schritte gegangen waren.
Irene Petzold drehte sich überrascht um. »Wiedersehen, Melissa! Wiedersehen!« Sie winkte der Kleinen zu.
»Für heute hast du, glaube ich, genug fremde Tanten kennengelernt, Liebes«, meinte Christine. Sie nahm Melissa auf den Arm und betrat mit ihr einen Supermarkt. »Hau ruck!« scherzte sie, als sie die Kleine in den Einkaufswagen setzte.
Vergnügt ließ sich Melissa durch die Gänge fahren. Es gefiel ihr, wenn rechts und links von ihr immer mehr Waren aufgestapelt wurden. »Bonbon«, sagte sie jedesmal, wenn Christine etwas Neues in den Wagen legte.
»Magst du ein Scheibchen Wurst, kleines Fräulein?« fragte die Verkäuferin hinter der Wursttheke. Sie reichte Christine eine dicke Wurstscheibe. »Ein hübsches Kind haben Sie«, meinte sie und sah zufrieden zu, als Melissa die Wurst nach und nach im Mündchen verschwinden ließ. »Die Kleine ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten… Nur die Augen hast du nicht von der Mama«, wandte sie sich wieder an Melissa.
Christine errötete. Sie freute sich, daß man Melissa für ihre eigene kleine Tochter hielt, und nahm sich vor, es am Abend Harald zu erzählen.
Aber Harald lachte, als er das hörte, nicht, wie Christine erwartet hatte. »Ein wenig hat die Verkäuferin schon recht«, meinte er. »Vielleicht kommt es daher, daß Melissa auch blond ist.« Er zog die Kleine auf seinen Schoß.
»Melia bond«, plapperte Melissa. »Ganz bond!«
»Ja, ganz blond«, bestätigte Harald. Er stand auf und schwenkte Melissa durch die Luft. Vergnügt schrie die Kleine auf.
»Vorsicht, Harald!« mahnte Christine besorgt.
»Deine Mama ist eine alte Unke«, sagte Harald zu seiner Tochter. »Immerzu hat sie Angst.«
»Berechtigte