Familie Dr. Norden Classic 49 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
Stimme war schon schwach gewesen. Die Metastasen waren auf den Kehlkopf übergegriffen. Das hatte Lea aber auch erst später erfahren.
»Sag nichts, Mutti, wenn es dir schwerfällt. Du kannst es mir später sagen, wenn es dir bessergeht.«
»Es ist jetzt schon zu spät, mein geliebtes Kind. Das warst du immer, vom ersten Tage an, als ich dich an unserer Haustür fand. Wir haben dich gleich geliebt, du wurdest unser Kind. Verzeih mir, daß ich es dir nicht früher sagte.«
Sie hatte manche Worte nur erahnen können, doch dann konnte sie sich alles zusammenreimen, und ein Nichtbegreifen war in ihr gewesen, als Carla nichts mehr sagen konnte. Sie hatte die Augen für immer geschlossen.
Lea versuchte, jetzt ganz ruhig nachzudenken. Sie war drei Jahre alt gewesen, als sie nach München gezogen waren. Ihr Vati war versetzt worden. Er war Finanzbeamter gewesen in Füssen und war befördert worden. Dann mußte sie wohl in Füssen ausgesetzt worden sein, aber war sie auch dort zur Welt gekommen? Wo sollte sie denn mit dem Suchen anfangen, wenn sie das überhaupt wollte?
Nein, dachte sie, es soll alles so bleiben, wie es war. Vati ist früh gestorben, an ihn konnte sie sich auch kaum noch erinnern. Nur die Fotos hatte sie immer wieder angeschaut. Er war kein verknöcherter Beamter gewesen, hatte Humor, und das konnte man auch auf den Fotos sehen, an seinen Augen, seinem Lächeln. Als sie erwachsen wurde, hatte sie immer noch nicht begreifen können, daß man mit fünfundvierzig Jahren sterben konnte, einfach so von einer Minute zur andern.
Ein Aneurysma war schuld gewesen, das eine Gehirnblutung zur Folge hatte. Bis Dr. Norden kam, war er schon tot, obgleich er sofort gekommen war. Das war das erste Mal gewesen, daß sie Dr. Norden kennenlernte, der gleich so freundlich zu ihr war, daß sie schnell ihre Scheu verlor, denn er kam nun öfter, weil Carla nicht so schnell über den plötzlichen Tod ihres Mannes hinwegkommen konnte. Der Schock saß tief, die Trauer zehrte an ihrer Substanz, und viel hatte sie nie zuzusetzen gehabt.
Aber Lea hatte sie gebraucht, und sie hatte die geliebte Mutti aufgemuntert.
All das ging Lea durch den Sinn, als sie am Fenster saß und in den sinkenden Abend schaute.
Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß sie in Carlas Sekretär doch einen Hinweis auf den Tag finden könnte, an dem sie von ihren Eltern gefunden wurden war. Ja, es waren ihre Eltern, niemand konnte daran rütteln, und sie war dankbar für die unbeschwerten Kinder- und Jugendjahre.
Sie brauchte sich nicht mal Sorgen um die Zukunft zu machen. Die Wohnung gehörte jetzt ihr. Sie war damals von den Eltern gekauft worden und inzwischen ganz abbezahlt. Carla hatte eine Ausbildungsversicherung für sie abgeschlossen und ihr auch ein ganz ansehnliches Vermögen hinterlassen, das zum größten Teil in Sparbriefen und Anleihen angelegt war.
Sie war volljährig und bereits seit sechs Wochen in einem renommierten Verlag als Auszubildende als Verlagskauffrau. Sie war sehr engagiert, weil es sie schon immer interessiert hatte.
Nein, Angst brauchte sie vor der Zukunft nicht zu haben, und sie war auch ehrgeizig genug, um ihr Ziel ohne Schwierigkeiten zu erreichen
Sie verplemperte ihre Zeit nicht mit Discobesuchen und wechselnden Flirts, wie so viele ihres Alters. Sie hatte viele Ideen, die sie auch verwirklichen wollte. Darüber hatte sie noch mit keinem Menschen gesprochen, auch nicht mit Carla.
Jetzt saß sie vor dem Sekretär, an den sie sich nie herangewagt hatte, solange Carla lebte.
Als sie noch sehr klein war, wollte sie mal in den Schubladen kramen. Da hatte Carla ihre Hand genommen und sehr bestimmt gesagt: »Das gehört Mutti, und wenn du einen Schreibtisch hast, wird er allein dir gehören, da werde ich auch nicht herumkramen.«
Das hatte sie tief beeindruckt, und sie hatte sich daran gehalten. Sie hatte einen Schreibtisch bekommen, als sie zur Schule kam und war überzeugt, daß ihre Mutti niemals darin herumgestöbert hatte.
Große Geheimnisse hatte sie nicht, aber ein Tagebuch hatte sie schon geführt, in dem man auch lesen konnte, daß sie für diesen oder jenen Schauspieler schwärmte und daß ihr der Abiturient Niklas Fleming ganz besonders gut gefiel, als sie fünfzehn war. Er hatte sogar manchmal mit ihr gesprochen, da sie auch denselben Schulweg hatten. Dann war er mit seinen Eltern nach Kanada gegangen, und sie hatte nie mehr etwas von ihm gehört. Kein anderer Junge hatte sie danach so beeindruckt, und jetzt, da sie erwachsen war, zeigte sie sich Männern gegenüber sehr reserviert, besonders seit eine ältere Kollegin sexuell belästigt worden war. Sie hatte zwar öfter davon gelesen, aber nie jemand kennengelernt, der direkt betroffen war. Da es ein sehr nettes Mädchen war, das nie provozierend auftrat, war ihr das sehr unter die Haut und auch zu Herzen gegangen. Sie ging sofort auf Abwehr, wenn sich ihr ein Mann hautnah näherte. Auch im Verlag passierte das manchmal, wenn auch gewiß nicht immer absichtlich. Sie hatte auch mit ihrer Mutti darüber gesprochen, und Carla hatte gemeint, daß ihr natürlicher Instinkt sie hoffentlich vor solchen Erfahrungen bewahren würde.
Sie hatte gewisse Regeln immer befolgt, und deshalb fiel es ihr auch nicht leicht, sich mit Carlas ganz persönlichen Dingen zu befassen.
Es herrschte in den Kästen mustergültige Ordnung. Sie fand Hefte, in denen Carla sehr korrekt ihre Einnahmen und Ausgaben eingetragen hatte. Private Post hatte sie selten bekommen. Manchmal war ein Brief aus Füssen gekommen von einem Dr. Altmann, und sie fand auch ein Bündel Briefe von ihm.
Plötzlich kam Lea der Gedanke, daß es vielleicht ein paar Menschen gab, die von Carlas Ableben benachrichtigt werden müßten. Zum Beispiel auch dieser Dr. Altmann. Das wollte sie gleich morgen erledigen. Sie hatte noch bis zum Montag Urlaub, um alles zu regeln.
Sie fand auch ein Notizbuch, in dem mehrere Adressen verzeichnet waren, aber es war ein altes, schon abgegriffenes Büchlein. Sie blätterte es nur flüchtig durch, und auch sonst fand sie nichts in den vier Kästen, das sie besonders interessiert hätte.
Anders war es, als sie die Klappe des Aufsatzes öffnete. Dahinter waren Fotoalben und auch zwei Tagebücher verborgen, zwei Kassetten, die ziemlich schwer waren, aber verschlossen und diese Schlüssel hatte sie noch nicht gefunden. Sie fand auch ein Bündel Geldscheine in einem flachen Metallkasten. Lea zählte sie nicht nach. Sie stützte den Kopf in beide Hände und überlegte, ob ihr der Inhalt dieses Sekretärs doch ein Geheimnis verraten konnte. Aber was konnte das schon sein, wenn sie ein Findelkind war?
Sie suchte nach den Schlüsseln für die beiden Kassetten, und da öffnete sich wie von Geisterhand eine Verschalung auf der linken Seite, und in dem Fach fand sie eine wunderschöne ziselierte Silberdose, in der sich kleine Schlüssel befanden und ein Etui mit einem ungewöhnlich schönen Diamantring. Sie hatte diesen nie an Carlas Hand gesehen. Ihr war ganz seltsam zumute. Sie hatte Hemmungen, den Dingen auf den Grund zu gehen, aber wer sollte sie letztlich daran hindern? Auch Carla konnte das nicht mehr, und sicher hätte sie es auch nicht gewollt.
Sie nahm die Briefe von Dr. Altmann, das abgegriffene Notizbuch und die beiden Kassetten und ging ins Wohnzimmer.
In dem bequemen Sessel konnte sie entspannter sitzen, und da merkte sie erst, wie verkrampft sie war.
Sie las zuerst den Brief, der vor vier Jahren geschrieben war. Er war nicht lang.
Verehrte Frau Baran, ich kann Ihnen mitteilen, daß der Verkauf Ihres Elternhauses jetzt perfekt ist. Graf Serna-Priot hat auf sein Vorkaufsrecht bestanden, da das Grundstück einstmals zum Besitz seiner Vorfahren gehörte. Ich konnte allerdings den Preis aushandeln, der den heutigen Verhältnissen entspricht. Ich hoffe, daß Sie damit zufrieden sind und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen würden, wie und wo der Betrag angelegt werden soll.
Ich würde mich freuen, wenn wir dies persönlich besprechen könnten. Ich würde auch nach München kommen.
Die anderen Briefe waren noch kürzer, verrieten aber, daß persönliche Gespräche stattgefunden hatten. Der letzte Brief, der erst vier Wochen alt war, enthielt die Mitteilung, daß das Vermögen durch gewinnbringende Kapitalanlagen auf über eine Million angewachsen war. Das mußte Lea auch erst mal verdauen.
Warum hatte Carla auch daraus ein Geheimnis gemacht? Hatte sie etwa gefürchtet,