Gesang der Fledermäuse. Olga TokarczukЧитать онлайн книгу.
kontrollierte ich zuerst das Professorenhaus, mein Lieblingshaus. Es war klein und schlicht. Ein schweigsames, einsames Häuschen mit weißen Mauern. Das Professorenehepaar wohnte selten dort, öfter als sie tauchten ihre Kinder hier mit Freunden auf, und dann trug der Wind ihre lauten Stimmen zu mir herüber. Das Haus mit offenen Fensterläden, hell erleuchtet und voll lauter Musik, schien mir überrumpelt und wie betäubt zu sein. Man könnte sagen, dass es mit den sperrangelweit klaffenden Fensteröffnungen idiotisch aussah. Es kam aber sofort wieder zu sich, wenn sie abreisten. Sein Schwachpunkt war das steile Dach. Der Schnee rutschte von ihm herunter und lag bis in den Mai hinein an der nordseitigen Mauer, und durch diese drang Feuchtigkeit nach innen. Dann musste ich den Schnee wegräumen, eine schwere und undankbare Arbeit. Im Frühling bestand meine Aufgabe darin, den Garten in Ordnung zu halten. Ich pflanzte Blumen und pflegte alles, was auf dem Stückchen Erde vor dem Haus wuchs. Das tat ich gern. Es kam vor, dass kleinere Reparaturen notwendig waren, dann rief ich die Eigentümer in Wrocław an, und sie überwiesen mir Geld auf ein Konto. Damit konnte ich Arbeiter beauftragen und die Arbeiten lediglich beaufsichtigen.
Ich bemerkte in diesem Winter auch, dass in ihrem Keller Fledermäuse wohnten, eine ziemlich große Familie. In den Keller war ich nur deshalb hinabgestiegen, weil ich glaubte, von dort käme das Geräusch tropfenden Wassers. Ein Rohrbruch wäre ein ziemliches Malheur gewesen. Doch dann sah ich die im steinernen Deckengewölbe zusammengedrängte Schar der schlafenden Fledermäuse. Sie hingen bewegungslos dort, und es sah aus, als beobachteten sie mich im Schlaf, als spiegele sich das Licht der Glühbirnen in ihren offenen Augen. Flüsternd verabschiedete ich mich von ihnen, bis zum Frühling. Einen Wasserschaden hatte ich nicht entdecken können, und so stieg ich auf Zehenspitzen wieder nach oben.
Im Haus der Schriftstellerin gab es Marder. Ich gab ihnen keine einzelnen Namen, denn ich konnte sie weder zählen noch unterscheiden. Man sieht sie nur selten, und das ist ihre besondere Eigenschaft, sie sind wie Geister. Sie erscheinen und verschwinden so schnell, dass man nicht glaubt, was man gesehen hat. Schöne Tiere, die Marder. Ich würde sie im Wappen tragen, bei Bedarf. Sie scheinen leicht und unschuldig zu sein, aber der Schein trügt. In Wirklichkeit sind es gefährliche und durchtriebene Wesen. Zwischen ihnen und den Katzen, Mäusen und Vögeln herrscht ewiger Kleinkrieg, und auch untereinander wird ständig gekämpft. Im Haus der Schriftstellerin hatten sie sich zwischen den Dachziegeln und der Wärmedämmung des Speichers eingenistet, und ich habe sie in Verdacht, dass sie dort Verwüstungen anrichten, die Mineralwolle wegreißen und Löcher in die Holzplatten beißen.
Die Schriftstellerin kam meistens im Mai angereist, ihr Auto voll gestopft mit Büchern und exotischen Nahrungsmitteln. Ich half ihr immer beim Auspacken, denn sie hatte eine kranke Wirbelsäule. Nach einem Unfall trug sie eine orthopädische Halskrause. Aber vielleicht war ihre Wirbelsäule auch vom Schreiben kaputt. Sie sah aus wie jemand, der Pompeji überlebt hatte, als sei sie unter Asche begraben gewesen. Ihr Gesicht war fahl, sowohl die Farbe der Lippen als auch die der Augen war grau. Die langen grauen Haare trug sie nach oben gekämmt, auf dem Kopf straff mit einem Gummi gebunden und zu einem kleinen Dutt zusammengedreht. Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, läse ich sicher ihre Bücher. Da ich sie aber besser kannte, fürchtete ich mich davor. Vielleicht hatte sie meine geliebten Orte auf eine Art und Weise beschrieben, die ich nicht begriff. Vielleicht waren meine geliebten Orte für sie etwas ganz anderes als für mich. In irgendeinem Sinn sind Personen wie sie, die schreiben können, gefährlich. Sofort drängt sich einem der Verdacht auf, dass sie nicht echt sind, dass so eine Person nicht sie selbst ist, sondern nur das Auge, das in einem fort schaut und das Gesehene in Sätze verwandelt. Auf diese Art raubt sie der Realität das Allerwichtigste, nämlich das Unaussprechliche.
Sie verbrachte hier die Zeit bis Ende September und ging kaum aus dem Haus. Nur manchmal, wenn die Hitze trotz des Windes unerträglich und klebrig geworden war, bettete sie ihren fahlen Körper in einen Liegestuhl und verharrte reglos in der Sonnenglut, wovon sie noch grauer wurde. Wenn ich nur ihre Füße sehen könnte, vielleicht würde sich herausstellen, dass auch sie kein menschliches Wesen war, sondern eine andere Variante des Daseins. Eine Nixe des Logos oder eine Sylphide. Manchmal bekam sie Besuch von einer Freundin, einer dunkelhaarigen starken Person mit grell geschminkten Lippen. Die hatte ein braunes Muttermal im Gesicht, vermutlich ein Zeichen dafür, dass Venus zum Zeitpunkt ihrer Geburt im ersten Haus stand. Sie kochten gemeinsam, als seien ihnen wieder die althergebrachten Familienrituale eingefallen. Im letzten Jahr hatte ich oft mit ihnen gegessen: scharfe Kokosmilchsuppe, Kartoffelpuffer mit Pfifferlingen. Sie kochten gut und schmackhaft. Die Freundin verhielt sich sehr zärtlich zu der aschgrauen Frau, der ich den Namen Grisella gegeben hatte. Sie kümmerte sich um sie wie um ein Kind. Sicher wusste sie genau, was sie tat.
Das kleinste Haus am feuchten Waldrand hatte vor Kurzem eine lärmende Familie aus Wrocław gekauft. Sie hatten zwei halbwüchsige, dickliche, verzogene Kinder und ein Lebensmittelgeschäft in Krzyki. Das Haus sollte umgebaut und in einen polnischen Gutshof verwandelt werden – es sollten Säulen und eine Galerie angebaut werden, und auf der Hinterseite sollte es einen Swimmingpool geben. Das erzählte mir der Vater. Vorerst wurde alles mit einem aus Beton gegossenen Zaun eingefasst. Sie zahlten großzügig und baten mich, täglich zu überprüfen, ob niemand eingebrochen sei. Das Haus selbst war alt und kaputt, es sah aus, als wollte es in Ruhe gelassen werden, um friedlich in die Zukunft zu bröckeln. In diesem Jahr stand ihm jedoch eine Revolution bevor. Es wurden Berge von Sand geliefert und vor dem Tor abgeladen. Der Wind verwehte ständig die Abdeckfolie, und diese Folie wieder zu richten kostete mich viel Anstrengung. Auf ihrem Grundstück befand sich eine kleine Quelle, und dort wollten sie Fischteiche anlegen und einen Grill mauern. Sie hießen Studzienni. Ich überlegte lange, ob ich ihnen einen eigenen Namen geben sollte, doch ich kam zu der Erkenntnis, dass es einer der beiden Fälle war, wo der Name bereits perfekt zum Menschen passte. Es waren wirklich Brunnenmenschen – wie Menschen, die vor langer Zeit in einen Brunnen gefallen waren, sich nun am Brunnengrund ihr Leben einrichteten und dabei glaubten, der Brunnen sei die ganze Welt.
Das letzte Haus, das schon ganz nah am Weg lag, war zu vermieten. Meistens waren es junge Eheleute mit Kindern, die am Wochenende hier die Natur suchten. Manchmal Verliebte. Es kam auch vor, dass verdächtige Typen sich dort einmieteten, die sich abends volllaufen ließen, die Nacht mit ihrem betrunkenen Gegröle erfüllten und dann bis mittags schliefen. Sie alle huschten wie Schatten durch unser Lufcug. Für eine Stippvisite. Das kleine, unpersönlich renovierte Haus gehörte dem reichsten Menschen in der Gegend, dessen Besitztümer in jedem Tal und auf jedem Hochplateau verstreut waren. Der Typ nannte sich Wnętrzak – und das war eben der zweite Fall, in dem der Name ganz von selbst zu seinem Träger passte. Angeblich hatte er das Haus wegen des Grundstücks gekauft, auf dem es stand. Angeblich kaufte er Grundstücke, um später einmal einen Steinbruch daraus zu machen. Angeblich war das ganze Hochplateau für einen Steinbruch geeignet. Angeblich leben wir hier auf einer Goldgrube, und das Gold heißt Granit.
Ich musste mich wirklich anstrengen, um den Überblick über das Ganze hier zu behalten. Dazu kam noch die kleine Brücke, ich musste nachsehen, ob sie noch in Ordnung war und ob das Wasser nicht die Stützen unterspülte, die bei der letzten Überschwemmung dazugebaut worden waren. Ob keine Hohlräume entstanden waren. Wenn ich meinen Rundgang beendet hatte, blickte ich mich noch einmal nach allen Seiten um, und eigentlich sollte ich froh sein, dass es das alles hier gab. Es hätte ja auch einfach nicht da sein können. Es hätte nur das Gras da sein können, große Büschel windgepeitschtes Steppengras und die Rosetten der Silberdisteln. So hätte es auch aussehen können. Oder überhaupt nichts – eine große Leere im kosmischen Raum. Vielleicht wäre das für alle sogar besser gewesen.
Wenn ich auf meinen Rundgängen über die Felder und das Brachland gehe, dann stelle ich mir gerne vor, wie das alles in einer Million Jahren aussehen wird. Wird es dann noch die gleichen Pflanzen geben? Und die Farbe des Himmels, wäre sie noch genauso wie heute? Werden sich die tektonischen Platten verschoben haben, und wird sich hier eine hohe Bergkette auftürmen? Oder würde hier ein Meer entstehen, sodass man in den träge schwappenden Wellen gar nicht mehr von einem »Ort« sprechen könnte? Eines ist sicher – die Häuser hier wird es nicht mehr geben. Meine Bemühungen hier sind so gut wie nichts, sie haben auf der Spitze einer Stecknadel Platz, so wie auch mein Leben. Das muss ich mir vor Augen halten.
Ein Stück weiter, wenn man unsere Umzäunungen