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Der Mörder. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.

Der Mörder - Georges  Simenon


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      Georges Simenon

      Der Mörder

      Die großen Romane – Band 20

      Aus dem Französischen von Lothar Baier

      Mit einem Nachwort von Judith Kuckart

      Hoffmann und Campe

      1

      Die tägliche Routine, die gewohnten Verrichtungen und Bewegungen hatten sich so innig mit dem ungeheuerlichsten Abenteuer vermischt, dass Doktor Kuperus, Hans Kuperus aus Sneek (Niederländisch-Friesland), eine sozusagen wollüstige Erregung verspürte, die ihn an die Wirkung von Koffein erinnerte.

      Er war wie an jedem ersten Dienstag im Monat in Amsterdam. Es war Januar; er hatte seinen Mantel mit Otterkragen umgelegt, und da es schneite, trug er Gummiüberschuhe.

      Eigentlich sind diese Einzelheiten bedeutungslos, es soll damit auch nur gesagt werden, dass alles so wie an jedem ersten Dienstag im Monat war. Sogar diese Kleinigkeit: Nachdem er das schöne Bahnhofsgebäude aus rotem Backstein verlassen hatte, ging er gegenüber einen Genever trinken, wovon er nie erzählte, denn es gehört sich nicht, um zehn Uhr morgens allein ein vergünning-Café1 zu betreten und dort Alkohol zu konsumieren.

      Es hatte die ganze Nacht geschneit, es schneite immer noch, aber es herrschte eine heitere Atmosphäre. Vereinzelte Flocken fielen sachte herab, ohne Gefahr zu laufen, in der Luft aufeinanderzutreffen, und von Zeit zu Zeit kam am bereits fahlblauen Himmel die Sonne zum Vorschein. Der Schnee blieb liegen. Männer kehrten ihn zu Haufen zusammen. Auf den Kanälen bildeten sich Eisschichten nahe an den Ufern, und Reifkristalle verliehen den Schiffsrümpfen einen eigenartigen Glanz.

      Das Abenteuer nahm seinen Anfang mit dem zweiten Glas Bols, in das sich Kuperus etwas Bitter gießen ließ, um den Geschmack, den er nicht mochte, zu vertreiben. Er zahlte, wischte sich den Mund ab, schlug den Kragen hoch und ging hinaus, die Hände in den Taschen und die Mappe unter den Arm geklemmt.

      Normalerweise hätte er mit der Straßenbahn zu seiner Schwägerin in das vornehme Viertel am Botanischen Garten fahren müssen. Er hätte dort gegessen, und um zwei Uhr hätte er sich zu Fuß in ein dreihundert Meter entferntes Gebäude aus glasierten Backsteinen begeben, wo sich an jedem ersten Dienstag im Monat die Ärzte der Biologischen Gesellschaft versammelten.

      Er ging weder zu seiner Schwägerin, der dicken Frau Kramm, noch zu der Versammlung, und das versetzte ihn in einen fast schwebenden Zustand, als wäre zum ersten Mal in seinem Leben der Faden durchschnitten, der ihn am Boden festhielt.

      Er bog in die breite Straße ein, die zum Theaterviertel führt, und blieb vor dem Schaufenster jedes Waffengeschäfts stehen. Er hätte in das Erstbeste hineingehen können. Er sah sich aber lieber vier oder fünf an, und während er die Waffen musterte, betrachtete er sich in der Schaufensterscheibe.

      Dass er wie ein Provinzler aussah, war ihm klar, vor allem wenn er seinen Hut abnahm, denn er hatte es nie fertiggebracht, seine rotblonden Haare zu bändigen. Er war groß und breit. Leute, die es nicht besser wussten, sagten von ihm:

      »Er ist ein Koloss!«

      Er aber, der sich selbst kannte, der erpicht darauf war, sich zu kennen, hatte sich schon immer als weich empfunden. Sein Gesicht zum Beispiel! Diese zu schweren Augenlider, diese vorquellenden Augen … Und die Linie des Mundes, die leicht schiefe Nase …

      Er war müde. Er war defizient, um ein Wort zu gebrauchen, das seine Patienten beeindruckte. Er wusste, dass er an Phosphatmangel litt, und wenn er noch eine Weile gegangen wäre, hätte er bestimmt eine Beklemmung in der Brust verspürt.

      Nur spielte das von nun an keine Rolle mehr! Er nahm seine Kräfte zusammen, das heißt, er trieb sich noch vor drei Waffengeschäften herum und trat dann in einen ganz kleinen Laden, wo er einen alten Mann mit Käppchen hinter dem Ladentisch sah.

      »Haben Sie automatische Revolver?«

      Was für eine törichte Frage! Die Auslage war voll davon!

      Ehrfürchtig und mit einem leichten Schauer fasste er die Waffe an, so wie seine Patienten das blanke Instrument berührten, das er gleich ergreifen würde, sei es, um eine eitrige Fingerentzündung aufzuschneiden, sei es, um ihren Magen zu untersuchen.

      Er ließ die Waffe laden, steckte sie in die Tasche, schaute auf die Uhr und dachte daran, dass er normalerweise jetzt bei seiner Schwägerin, Frau Kramm, Tee trinken und Käsesandwiches essen müsste.

      Da er nichts dergleichen tun wollte und der Zug erst um drei Uhr fuhr, betrat er ein gutes Restaurant, das ihm sonst zu teuer war, und bestellte ein komplettes französisches Menü mit Horsd’œuvre, Wein, Eisbombe und Dessert. Er saß allein an einem Tisch. Ihm war warm. Er dachte daran, dass der Revolver die Tasche seines Mantels ausbeulte, der am Kleiderhaken hing. Darüber musste er lachen!

      Schließlich ging er in ein Kino und sah den Anfang eines Films, dessen Ausgang er niemals erfahren würde.

      Nach drei Uhr vermischte sich das Gewohnte noch inniger mit dem Abenteuer, denn Kuperus tat das, was er am Tag darauf hätte tun müssen, genau dasselbe, einfach nur um einen Tag verschoben.

      Gewöhnlich kam er dienstags an, nahm nachmittags an der Sitzung der Gesellschaft teil und verbrachte den Abend und die Nacht bei seiner Schwägerin. Am Mittwochmorgen erledigte er einige Einkäufe, mit denen ihn seine Frau jedes Mal beauftragte, und um drei Uhr bestieg er den Zug nach Enkhuizen.

      Um einen Tag verschoben! Dennoch änderte das alles! Sicherlich war dienstags Markt in Enkhuizen, denn der Zug war voll von ihm unbekannten Leuten, die einer anderen Klasse angehörten als seine Mitreisenden vom Mittwoch. Einige trugen Pelzmützen wie er selber auch, wenn er zu Hause in Sneek war, doch niemals in Amsterdam. Das hätte er nicht gewagt.

      Diese Unbekannten grüßten ihn, denn man grüßt immer, wenn man ein Abteil betritt. Dann fingen sie an, über ihre Geschäfte zu sprechen, es war die Rede von dänischen und lettischen Schweinen.

      Noch ein offensichtlich bedeutungsloses Detail, aber dennoch ein Detail: Mittwochs hätte er in seinem Abteil erster Klasse die Bürgermeister von Stavoren, Leeuwarden und Sneek getroffen, denn an jedem ersten Mittwoch im Monat fand in Amsterdam die Konferenz der Bürgermeister statt …

      Zwei Stunden Fahrzeit nach Enkhuizen. Er befühlte ein paarmal den Revolver in der Tasche und unterdrückte ein Lächeln.

      Der Unterschied zum Mittwoch machte sich jetzt immer deutlicher bemerkbar. Die ›Prinzessin Helena‹ lag wie immer am Quai. Es war ein schönes weißes Schiff, das seit einem Jahr seinen Dienst versah. Kuperus kannte den Kapitän, die Offiziere, die Stewards, kurz, er kannte jeden, aber er erkannte keinen der Fahrgäste.

      Immer noch mit der Mappe unter dem Arm, stieg er in den großen Salon hinunter, wo er an dem Tisch im hintersten Teil, immer am selben Tisch, seine drei Bürgermeister hätte wiedertreffen müssen und wo man ihnen alsbald zwei Kartenspiele für Bridge und große Gläser mit Amstel-Bier gebracht hätte.

      Denn die Überfahrt über die Zuidersee von Enkhuizen nach Stavoren dauerte nur eineinhalb Stunden, Zeit genug, um zwei oder drei Robber zu machen, wenn nicht einer darauf bestand zu bluffen. (Es war immer der Bürgermeister von Leeuwarden, der bluffte, wenn er am Verlieren war!)

      Man brachte ihm das Bier ohne die Karten. Der Steward bemerkte:

      »Sie sind einen Tag zu früh!«

      Und er ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, voll Genugtuung zu erwidern:

      »Ich bin ein Jahr zu spät!«

      Auch an Bord waren dienstags ganz andere Leute als mittwochs. Lauter Unbekannte, die nach Leeuwarden fuhren, sicherlich zu einem Markt oder zu einem Kongress.

      Die Nacht war hereingebrochen. Die Zuidersee war ruhig. Die Schraube drehte sich gleichmäßig. Ein Engländer las eine dicke englische Zeitung.

      Ein Jahr zu spät! Das war es! Gierig griff Kuperus diesen Gedanken wieder auf.

      Bis


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