Schlusslichter. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.
»… Das Labor-Day-Wochenende hat um 19.45 Uhr zu einem ersten tödlichen Unfall geführt, als auf der Kreuzung der Schnellstraße eins mit der Einhundertachtzehn in Darrien ein von einem gewissen Mac Killian aus New York gesteuertes Fahrzeug mit einem LKW zusammenstieß. Mac Killian und sein Beifahrer, John Roe, waren auf der Stelle tot, während der LKW-Fahrer Robert Ostling unverletzt blieb. Zehn Minuten später ist dreißig Meilen von der besagten Stelle entfernt ein Fahrzeug, an dessen Steuer …«
Er stellte das Radio wieder aus. Seine Frau machte den Mund auf, sagte aber nichts. War ihr aufgefallen, dass er – unbewusst vielleicht – den Fuß vom Gas genommen hatte?
Schließlich murmelte sie:
»Wenn wir Providence hinter uns haben, wird es leerer.«
»Bis der Verkehr aus Boston dazustößt.«
Er sagte das ungerührt. Er hatte keine Angst. Was an seinen Nerven zerrte, war das nicht abzuschüttelnde Radgeräusch zu beiden Seiten, das Licht der Straßenlampen, das alle hundert Meter auf ihn zustürzte, und das Gefühl, in dieser Fahrzeuglawine gefangen zu sein, ohne nach rechts oder links ausbrechen oder auch nur langsamer fahren zu können. Im Rückspiegel sah er eine dreifache Lichterkette, die ihm, Stoßstange an Stoßstange, folgte.
Rechts waren jetzt Neonschilder aufgetaucht, neben den Tankstellen die einzigen Hinweise auf menschliches Leben. Ohne sie hätte man meinen können, der Highway schwebe in einer unendlichen Weite aus Nacht und Stille. Die Städte und Dörfer hatten sich verkrochen, unsichtbar, nur dann und wann ließ ein rötlicher Schimmer am Himmel ihre Existenz erahnen.
Die einzige greifbare Wirklichkeit waren die Restaurants und Bars, die alle fünf oder zehn Meilen aus dem Dunkel auftauchten und mit roten, grünen oder blauen Buchstaben für eine Bier- oder Whiskymarke Reklame machten.
Er war immerhin schon auf der mittleren Spur. Er war unversehens hinübergelangt, ohne dass seine Frau es gemerkt hatte, und wechselte jetzt bei einer Lücke plötzlich auf die ganz rechte Spur.
»Was machst du?«
Fast hätte er die Bar verfehlt, auf deren Neonschild ›Little Cottage‹ stand. Er bremste gerade noch rechtzeitig, aber so abrupt, dass der Wagen hinter ihm einen Satz zur Seite machte und eine Flut von Verwünschungen auf sie niederging. Der Fahrer streckte sogar die geballte Faust aus dem Fenster.
»Ich muss auf die Toilette«, sagte er so natürlich wie möglich, als er auf dem Parkplatz hielt. »Hast du Durst?«
»Nein.«
Das war schon oft so gewesen. Sie wartete dann im Auto. In einem anderen vor der Bar abgestellten Wagen hielt sich ein Paar so eng umschlungen, dass er einen Moment überlegte, ob nun ein oder zwei Personen drinsaßen.
Als er die Tür aufgestoßen hatte, fühlte er sich sofort wie ein anderer Mensch. Er blieb stehen, um den in rötliches Halbdunkel getauchten Raum zu betrachten. Es war eine Bar wie all die anderen auf der Strecke und im Grunde auch nicht viel anders als die von Louis in der 45. Straße – der gleiche Fernseher in der Ecke, die gleichen Gerüche und die gleichen Lichtreflexe.
»Martini trocken, mit Zitronenscheibe«, sagte er, als sich der Barkeeper ihm zuwandte.
»Einfach?«
»Doppelt.«
Wenn er nicht danach gefragt worden wäre, hätte er sich mit einem einfachen begnügt. Aber er nahm lieber einen doppelten, weil seine Frau ihn wahrscheinlich nicht mehr anhalten lassen würde.
Er blickte unschlüssig auf die Tür zu den Toiletten und ging dann pro forma hin, aus Ehrlichkeit gewissermaßen. Er kam an einem Mann mit sehr dunkler Haut vorbei, der gerade telefonierte und die Sprechmuschel mit der Hand abschirmte. Seine Stimme war rau.
»Ja. Du wiederholst ihm einfach, was ich dir eben gesagt habe. Sonst nichts. Er versteht schon, ich sag es dir. Und jetzt hör endlich auf, mir auf die Nerven zu gehen!«
Steve wäre gern langsamer gegangen, um zuzuhören, aber der Mann bedachte ihn beim Reden mit unfreundlichen Blicken. Was mochte seine Nachricht im Klartext bedeuten? Und wer war am anderen Ende der Leitung?
Er ging an die Bar zurück, hatte sein Glas in zwei Zügen geleert und kramte schon in der Tasche nach dem Geld. Ob Nancy etwas sagen würde? Reichte es nicht, dass er ihretwegen darauf verzichtete, ein paar Minuten länger zu bleiben, um sich die Leute anzuschauen und ein bisschen zu entspannen?
Vielleicht hatte er gerade den Tunnel betreten? Oder war er schon seit ihrer Abfahrt aus Long Island drin? Jedenfalls war es ihm nicht bewusst. Er hielt sich für den normalsten Menschen der Welt – das bisschen Alkohol konnte ihm doch nichts anhaben.
Warum fühlte er sich gehemmt und schuldig, als er zum Wagen ging und ohne einen Blick auf seine Frau die Tür öffnete? Sie stellte ihm keine Fragen und sagte nichts.
»Das tut gut!«, murmelte er wie zu sich selbst, als er den Motor anließ.
Er hatte das Gefühl, dass weniger Fahrzeuge unterwegs waren und der Verkehr ruhiger lief. Er überholte sogar drei oder vier Autos, die wirklich zu langsam fuhren. Ein Krankenwagen auf der gegenüberliegenden Fahrbahn irritierte ihn nicht weiter, weil er ganz auf die seltsamen Lichter und weißen Absperrungen konzentriert war, die vor ihm auftauchten.
»Umleitung«, ertönte Nancys Stimme ruhig und etwas zu gedämpft.
»Hab ich gesehen.«
»Links.«
Das Blut stieg ihm in den Kopf, denn fast wäre er rechts gefahren.
Er brummte:
»Jedes Mal, wenn wir die Strecke fahren, ist irgendwo eine Umleitung. Als ob sie die Straßen nicht im Winter ausbessern könnten!«
»Bei Schnee?«, fragte sie, immer noch im selben Tonfall.
»Dann eben im Herbst. Jedenfalls zu einer Zeit, wo nicht vierzig Millionen Autofahrer unterwegs sind.«
»Du bist über die Kreuzung hinausgefahren.«
»Welche Kreuzung?«
»Die mit dem Hinweisschild zum Highway.«
»Und die hinter uns?«, spöttelte er.
Hinter ihnen fuhren noch andere Wagen, allerdings nicht so viele wie vorher.
»Es wollen eben nicht alle nach Maine.«
Als sie kurz danach in eine große Straße einbogen, triumphierte er.
»Na, und was ist das? Was, glaubst du, hat dein Hinweisschild bedeutet?«
»Wir sind nicht auf der Eins.«
»Das werden wir noch sehen.«
Was ihm zusetzte, war die Sicherheit seiner Frau, die Ruhe, mit der sie ihm antwortete.
Er gab nicht nach:
»Du kannst dich wohl nicht irren, oder?«
Sie schwieg, und das reizte ihn erst recht.
»Antworte! Sag ruhig, was du denkst!«
»Erinnerst du dich noch an die Fahrt, als wir einen Umweg von sechzig Meilen gemacht haben?«
»Da haben wir immerhin den ganzen Stau umfahren!«
»Was reiner Zufall war!«
»Hör zu, Nancy, wenn du Streit willst, dann gib’s nur zu.«
»Ich will keinen Streit. Ich versuche herauszufinden, wo wir sind.«
»Und ich bin der Fahrer. Also tu mir den Gefallen und kümmere dich nicht drum.«
Sie blieb still. Auch er konnte sich an die Straße nicht erinnern. Sie war schmaler, in schlechterem Zustand und ohne eine Tankstelle, seit sie eingebogen waren. Am Himmel zog das nächste Gewitter auf.
Nancy griff seelenruhig nach der Karte im Handschuhfach und schaltete die kleine Lampe unter dem Armaturenbrett