Schlusslichter. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.
versuchte zu spät, ein Ortsschild zu lesen, das aus dem Dunkel aufgetaucht war. Und schon hatten sie die paar Lichter des Dorfes hinter sich und fuhren durch ein Waldstück.
»Willst du wirklich nicht kehrtmachen?«
»Nein.«
Sie behielt die Karte auf den Knien und steckte sich eine Zigarette an, ohne ihm auch eine anzubieten.
»Wütend?«, fragte er.
»Wer, ich?«
»Ja, du. Gib zu, dass du wütend bist. Weil ich vom Highway abgekommen bin und wir jetzt einen Umweg von ein paar Meilen machen … Wenn ich mich recht erinnere, hast du doch vorhin gesagt, wir hätten Zeit genug …«
»Gib acht!«
»Worauf?«
»Du bist fast in die Böschung geraten.«
»Ich kann also nicht mehr fahren?«
»Das hab ich nicht gesagt.«
Darauf brach es hemmungslos aus ihm heraus, ohne bestimmten Grund.
»Du hast das vielleicht nicht gesagt, aber ich, mein Kleines, ich will dir mal was sagen, und du würdest gut daran tun, dir das ein für alle Mal zu merken.«
Es war seltsam, er wusste selbst nicht, was er ihr an den Kopf werfen sollte. Er suchte nach etwas, das stark und durchschlagend genug war, um seiner Frau die nötige Portion Bescheidenheit einzuimpfen.
»Du bist vielleicht die Einzige, die das noch nicht begriffen hat, Nancy, aber du bist eine Nervensäge.«
»Schau bitte auf die Straße!«
»Aber ja doch, ich schaue auf die Straße, ich fahre langsam und vorsichtig, damit wir nicht aus den Schienen springen. Verstehst du, was für Schienen ich meine?«
Das erschien ihm überaus schlau und überzeugend, fast wie eine Entdeckung. Das Schlechte an Nancy war, grob gesagt, dass sie immer auf den Schienen blieb, ohne je einer Laune nachzugeben.
»Verstehst du das nicht?«
»Muss das denn unbedingt sein?«
»Du meinst, ob du unbedingt wissen musst, was ich denke? Herrgott noch mal, das könnte dir vielleicht helfen, andere Menschen besser zu verstehen und ihnen das Leben schöner zu machen. Vor allem mir. Ich bezweifle nur, dass dich das überhaupt interessiert.«
»Würdest du bitte mich fahren lassen?«
»Ganz sicher nicht! Stell dir vor, du könntest, statt immer nur an dich selbst und deine Unfehlbarkeit zu denken, ein einziges Mal in den Spiegel schauen und dich fragen …«
Er bemühte sich, seinen Gefühlen und allem, was er in den elf Jahren ihrer Ehe jeden Tag seines Lebens empfunden hatte, Ausdruck zu verleihen.
Es war nicht das erste Mal, dass er das versuchte, heute jedoch glaubte er eine Entdeckung gemacht zu haben, die ihm die Möglichkeit gab, alles zu erklären. Irgendwann musste sie es doch begreifen, oder? Und an dem Tag, an dem sie es begriff – wer weiß, vielleicht würde sie versuchen, ihn endlich wie einen Mann zu behandeln?
»Gibt es etwas Blöderes als einen Zug, der immer dieselbe Strecke fährt? Auf denselben Schienen? Gerade eben, auf dem Parkway, da hatte ich das Gefühl, so ein Zug zu sein. Andere haben mal hier, mal da angehalten, Männer sind ausgestiegen. Mussten die etwa um Erlaubnis fragen, ein Glas Bier trinken zu gehen?«
»Du hast Bier getrunken?«
Er zögerte, blieb dann lieber bei der Wahrheit.
»Nein.«
»Martini?«
»Ja.«
»Einen doppelten?«
Es brachte ihn in Rage, dass er es zugeben musste.
»Ja.«
»Und zuvor?«
Sie war tatsächlich so gemein, weiterzubohren.
»Vor was?«
»Vor unserer Abfahrt.«
»Ich versteh nicht, wovon du redest.«
»Was hast du getrunken, als du tanken gefahren bist?«
Diesmal log er.
»Nichts.«
»Aha!«
»Glaubst du mir nicht?«
»Wenn es stimmt, hat der doppelte Martini stärker gewirkt als sonst.«
»Meinst du, ich bin betrunken?«
»Jedenfalls redest du so, wie wenn du getrunken hast.«
»Ich rede dummes Zeug?«
»Ich weiß nicht, ob es dummes Zeug ist, aber du hasst mich.«
»Warum willst du nicht verstehen?«
»Was soll ich denn verstehen?«
»Dass ich dich nicht hasse, dass ich dich im Gegenteil liebe und ich wirklich glücklich wäre mit dir, wenn du endlich bereit wärst, mich wie einen Mann zu behandeln.«
»Indem ich zulasse, dass du unterwegs in jeder Kneipe was trinkst?«
»Da siehst du’s!«
»Was soll ich sehen?«
»Du lässt dir dauernd irgendwelche Beleidigungen einfallen und blähst jede Kleinigkeit auf. Bin ich vielleicht ein Säufer?«
»Bestimmt nicht. Einen Säufer hätte ich nie geheiratet.«
»Und? Trinke ich oft?«
»Nein. Selten.«
»Weniger als einmal im Monat. Vielleicht einmal im Vierteljahr.«
»Was ist dann los mit dir?«
»Nichts wäre los mit mir, wenn du mich nicht wie den letzten Dreck behandeln würdest. Sobald ich mal einen Abend lang Lust habe, auch nur ein kleines bisschen aus unserem Alltag auszubrechen …«
»Empfindest du unseren Alltag als Last?«
»Das hab ich nicht gesagt … Aber nimm zum Beispiel Dick … Der geht jeden Abend mehr oder weniger blau ins Bett … Und trotzdem ist er in deinen Augen ein interessanter Bursche, und du diskutierst mit ihm, als ob nichts wäre. Selbst wenn er getrunken hat …«
»Erstens ist er nicht mein Mann.«
»Und zweitens?«
»Haben wir einen Lastwagen vor uns.«
»Den hab ich gesehen.«
»Sei mal einen Moment still. Wir kommen gleich an eine Kreuzung, und ich möchte gern die Schilder lesen.«
»Hast du was dagegen, von Dick zu reden?«
»Nein.«
»Tut es dir leid, dass du mich geheiratet hast und nicht ihn?«
»Nein.«
Sie waren wieder auf dem Highway. Die Autos auf den beiden Spuren fuhren viel schneller als bei der Abfahrt in New York, und die auf der linken Spur überholten zügig. Offenbar in der Hoffnung, ihn zum Schweigen zu bringen, drehte Nancy das Radio an, wo gerade die Elf-Uhr-Spätnachrichten liefen.
»… Die Polizei hat Hinweise, dass Sid Halligan, der in der vergangenen Nacht aus Sing-Sing ausgebrochen ist und den Fahndern bisher entkommen konnte …«
Nancy machte das Radio wieder aus.
»Warum lässt du es nicht an?«
»Ich wusste nicht, dass dich das interessiert.«
Es interessierte ihn nicht. Er hatte nie etwas von einem Sid Halligan gehört und überhaupt nicht mitbekommen, dass letzte Nacht ein Häftling aus Sing-Sing ausgebrochen war. Er hatte