Die Zeit mit Anaïs. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.
»Und Sie kennen den Namen des Weilers nicht?«
»In der Dunkelheit konnte ich das Ortsschild nicht lesen.«
»Haben Sie die Kirche nicht erkannt? Sie sind wohl nicht aus der Gegend?«
»Ich komme von Paris.«
»Hatten Sie sich verfahren?«
»Wahrscheinlich.«
»Wohin wollten Sie denn?«
»Ich weiß nicht. Irgendwohin.«
Das nun eintretende Schweigen hatte plötzlich etwas Beklemmendes. Schließlich fragte einer der Männer im Hintergrund, während er sich zu trinken einschenkte:
»Was hatten Sie denn so spät noch vor?«
Unterwegs hatte er sich überlegt, was er sagen würde, aber er spürte, dass das jetzt nicht mehr passte.
»Sie haben wohl nicht zufällig einen Automechaniker im Dorf?«
»Bis zur nächsten Werkstatt sind es gute fünfzehn Kilometer.«
»Kann ich dort anrufen?«
»Wenn das Telefon funktioniert. Aber niemand wird sich jetzt noch auf den Weg machen.«
Mechanisch deutete Bauche auf sein Glas, und der Wirt neigte die Flasche mit dem Zinnschnabel darüber.
Wiederum leerte er das Glas in einem Zug und sagte gedankenverloren:
»Ich muss telefonieren. Doch zuerst sollte ich wissen, wo ich bin.«
»In Ingrannes.«
»Wo liegt das genau?«
»Durch welchen Wald sind Sie wohl gefahren? Was denken Sie?«
»Keine Ahnung.«
Die drei Männer an ihrem Tisch brachen in Gelächter aus, stießen sich mit den Ellbogen an.
»Na, so was! Natürlich der Wald von Orléans. Sie befinden sich etwa auf halbem Weg zwischen Pithiviers und Orléans, der nächste Marktflecken ist Vitry-aux-Loges.«
Sein Blick verweilte auf den Bonbongläsern, den Sardinenbüchsen und Scheuermitteln, in einer Ecke stand ein Petroleumfass mit einer Pumpe.
»Dann werde ich jetzt mal telefonieren.«
»Wenn es der Mechaniker ist, den Sie erreichen möchten, können Sie sich Ihr Geld sparen. Seine Werkstatt ist geschlossen, und nachts geht er nicht ans Telefon.«
Ihm war nach einem weiteren Glas zumute, einem letzten, und er bat schüchtern darum, als gälte es, die anderen für sich einzunehmen. Er trank es in kleinen Schlückchen und lächelte dem Wirt zu.
»Er schmeckt gut.«
Doch statt das Glas auf die Theke mit dem braunen Wachstuch zu stellen, hielt er es ihm hin.
»Noch einen?«
»Ja, bitte.«
Da sie sich vielleicht wunderten, dass er keinen Mantel anhatte, fügte er erklärend hinzu:
»Ich habe meinen Mantel in Paris liegenlassen.«
Es war absurd. Er verhedderte sich. Es überlief ihn heiß. Seine dem Kamin zugewandte Körperhälfte glühte.
»Darf ich telefonieren?«
Er hatte auf eine Telefonzelle gehofft, doch da war nur das Wandtelefon, eingerahmt von den gesetzlichen Vorschriften zum Alkoholausschank und einer Bierreklame.
»Drehen Sie die Kurbel. Vielleicht haben Sie Glück, und jemand nimmt den Hörer ab.«
Die Katze lag auf dem Schoß der Alten, und einer der Hunde, der seine Schnauze auf ihr Knie gelegt hatte, sah hechelnd zu ihm auf.
Die Kurbel machte beim Drehen ein merkwürdiges Geräusch, das alte Erinnerungen in ihm wachrief. Der Hörer war glatt und speckig und wog schwer in seiner Hand. Schließlich vernahm er eine verzerrte Stimme, wie aus den ersten Zeiten des Telefons.
»Telefonamt Vitry.«
»Hallo, Mademoiselle … Könnten Sie mich bitte mit Paris verbinden? … Die Nummer kann ich Ihnen nicht sagen, aber sie ist sicher leicht zu finden. Ich möchte mit der Kriminalpolizei sprechen …«
Er wandte ihnen den Rücken zu und wagte sich nicht vorzustellen, wie sie darauf reagieren, und schon gar nicht, wie sie sich jetzt gleich verhalten würden. Noch hatte er die drei Gewehre, die in einer Ecke an der Wand lehnten, die Tuchbeutel und die Patronentaschen auf einem Stuhl nicht gesehen.
In der Leitung knackte es, dann sagte die Stimme:
»Die Verbindung ist unterbrochen.«
»Sie wissen nicht, wie lange es dauern wird?«
»Wahrscheinlich ist ein Baum auf die Leitung gestürzt. Vor morgen früh kann sie sicher nicht repariert werden.«
Damit sie nicht gleich einhängte, sagte er sehr schnell:
»Dann geben Sie mir bitte die Gendarmerie.«
Als das Wort ›Gendarmerie‹ über seine Lippen kam, merkte er, dass die vier Gläser Schnaps nicht ohne Wirkung geblieben waren, vielleicht einfach nur darum, weil er gefroren und nicht zu Abend gegessen hatte. Jedenfalls hatte er Mühe zu artikulieren.
»Welche Gendarmerie? Die von Vitry?«
»Ja, ist schon recht.«
»Einen Augenblick. Ich verbinde.«
Er musste lange warten. Er hörte Stimmen in der Leitung, die aber nicht deutlich bis zu ihm drangen. Es war, als gingen mehrere Gespräche ineinander über. Seine Lider brannten, sein Körper begann sachte zu schwanken, und er wusste, was das bedeutete. Er vermeinte, die vertraute Stimme zu hören, die ihn anfuhr:
›Du hast schon wieder getrunken?‹
Er fragte sich, warum er eigentlich getrunken hatte. Er hätte sich gerne noch ein weiteres Glas genehmigt. Die Männer hinter ihm schwiegen, die einzigen Geräusche waren das Ticken des Weckers und von Zeit zu Zeit das Hecheln des Hundes.
»So reden Sie doch! Die Gendarmerie ist am Apparat!«
Er hatte nichts gehört und fühlte sich wie ertappt.
»Hallo! Ist da die Gendarmerie?«
»Wachtmeister Rochain am Apparat.«
»Entschuldigen Sie die Störung, Wachtmeister. Ich befinde mich in …«
Er musste sich wohl oder übel umdrehen, denn ihm war der Name des Weilers entfallen …
»In … Einen Augenblick …«
»Ingrannes!«, soufflierte der Wirt. »Sagen Sie, bei Durieu. Er kennt mich.«
Folgsam wiederholte er:
»In Ingrannes. Bei Durieu.«
»Wer spricht denn?«
»Das wollte ich Ihnen gerade sagen. Sie kennen mich nicht. Ich wollte Sie bitten, mich hier abzuholen.«
»Wen sollen wir abholen? Ich kann Sie nicht hören. Ich verstehe nichts.«
Die Silben drangen fremd und verzerrt durch die Leitung, als befände man sich in einer Grotte.
»Mich sollen Sie abholen, mein Name ist Albert Bauche. Ich stelle mich der Polizei. Ich habe vorhin in Paris einen Mann getötet. Ich versuche nicht zu fliehen. Das hatte ich nie im Sinn, ganz im Gegenteil.«
»Einen Augenblick, bitte.«
In der Ferne hörte er Fetzen eines Gesprächs.
»Hör mal, was der sagt. Er will einen umgebracht haben und hat die Absicht, sich zu stellen.«
»Hallo! Wollen Sie bitte wiederholen, was Sie eben dem Wachtmeister gesagt haben?«
Wie ein Schuljunge