von wegen früher war alles besser. Hermann GrabherЧитать онлайн книгу.
der neue Jahrgang ein ganz wilder sei, einer, wie er noch nie je zuvor erlebt habe. Und das wildeste Kind unter allen sei offensichtlich unser Sohn Kornelius. In jeder Pause sei er, der Schulabwart, genötigt einen Knäuel raufender Buben auseinander zu schälen und zuunterst würde immer unser Söhnchen Kornelius zum Vorschein kommen - und dies mit lachendem Gesicht. Anscheinend mache es dem Buben einfach Spass, die Kraft raus zu lassen und mit anderen herum zu balgen. Aber, mit Verlaub, er könne sich dies einfach nicht zusammenreimen. Denn ich - sein Vater - sei doch immer so ein friedfertiger, nicht aggressiver Junge gewesen. «Du und Dein Sohn sind diesbezüglich so was von unterschiedlich!» Ich antwortete meinem Freund: «Ob Du es glaubst oder nicht, ich bin sein Vater! - Oder hast Du Zweifel?» Jules fiel mir beinahe ins Wort, so schnell antwortete er: «Ja, Du bist gewiss sein Vater! - Aber sonderbar ist das schon!»
Die Eltern von Kornelius hätten freilich einen schlüssigen Erklärungsansatz gehabt für dieses Phänomen. Schliesslich hat jedes Kind zwei Elternteile. Doch wir zogen es vor eine entsprechende Erklärung für uns zu behalten. Eigenartig war nur, dass Kornelius zuhause und auch wenn wir auf Reisen waren, sich als sehr gesittetes Kind benahm. Wir erhielten sogar oft Komplimente, weil sich der Bub in der Öffentlichkeit, in Restaurants und Hotels, wirklich auffallend wohl erzogen gab. In Sachen Aggressivität fiel er nach unserer Wahrnehmung höchstens dadurch auf, dass er im Winter mit seinen Skiern wie ein Berserker die Schneepisten runter pfiff und im Sommer auf ziemlich waghalsige Art und Weise mit seinem Trottinett - heisst jetzt wohl Kickboard - auf der ins Dorf runter führenden Strasse regelmässig seinen eigenen Mut testete. Immerhin trug der Junge meist einen Sturzhelm, was für uns Eltern zumindest eine kleine Beruhigungspille war. Kornelius’ Verhalten gegenüber seinen Kollegen in der ersten Klasse erklärten wir uns so, dass er es hiermit zum ersten Mal im Leben mit Gleichaltrigen zu tun bekam. Denn weil das Kind jeden Mittag ein längeres Schläfchen genoss, hatte meine Frau entschieden, den Sohnemann nicht in den Kindergarten zu schicken. Einen Kindergartenzwang gab es zu Anfang der Siebzigerjahre noch nicht. Kornelius musste zu Beginn seiner Schulzeit lernen in einer Gemeinschaft – seiner Klasse – sich zurecht zu finden. Dabei fühlte er sich offensichtlich richtiggehend herausgefordert, seine Kraft mit anderen zu messen. Und dies mit grossem Spass, Engagement und täglich neuen blauen Flecken.
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4 Schuljahre sind keine Herrenjahre
Die Strasse zu unserem Haus führt an einem Kindergarten und an einer Primarschule vorbei. Dort gibt es täglich mehrere Male eine Art Massenauflauf: Erwachsene Menschen - meist Eltern und Grosseltern, bringen oder holen ihre Sprösslinge ab, teils zu Fuss, mit dem Fahrrad, mehrheitlich aber mit dem Auto. Ein solcher Service dürfte zwar vom Kind überaus geschätzt werden, ist aber wohl per se nicht unbedingt zu seinem Vorteil. Denn auf dem Weg zur Schule oder von der Schule heim nachhause kann einiges erlebt und insbesondere gelernt werden, sofern dieser zu Fuss zurückgelegt wird. Und sei es nur Selbstverantwortung und Pünktlichkeit. Der Schulweg birgt zwar Gefahren, lässt das Kind aber andererseits an Erlebnissen teilhaben, die es im Auto der Mutter oder von Opa oder Oma nie geben kann. Was findet sich nicht alles am Wegesrand: Echsen, Käfer, Schnecken, Beeren, Nüsse, Katzen, von denen sich manche streicheln lassen. Ausserdem entstehen aus jenen Kameradschaften mit Mitschülern, Mitschülerinnen auf dem gemeinsamen Schulweg nicht selten Freundschaften fürs Leben.
Vieles hat sich geändert in der Epoche der letzten zwei Generationen, und zwar sowohl für die Schüler wie auch für die Lehrer. Wir redeten unsere Lehrpersonen noch mit Herr Lehrer oder Fräulein Lehrerin an. Ich hatte in meiner ganzen Primar- und Sekundarschulzeit nur eine einzige Lehrerin, nämlich in der ersten Klasse. Sonst waren die Lehrpersonen stets Männer. Heute ist das insbesondere in der Primarschule genau umgekehrt: Weitaus die meisten Lehrkräfte sind Frauen und das ist gut so. Denn Frauen haben mit Sicherheit mehr Feingefühl für kleinere Kinder. Dass den Buben dabei die männliche Komponente fehlen würde oder gar die eigene dadurch abhandenkomme, ist wohl Unsinn. Zu unserer Schulzeit trugen die Herren Lehrer während den Schulstunden mehrheitlich Krawatte - aus heutiger Sicht ein lächerlicher Selbstzwang. Während die Lehrpersonen früher sehr weit gefasste Freiheiten hatten den Lehrstoff zu vermitteln und die Kinder entweder Glück oder Pech hatten, unter die Fuchtel eines richtig guten oder dann eben eines richtig mässig guten Lehrers (selten Lehrerin) zu gelangen, haben die Lehrpersonen heute sehr einheitliche und klar gefasste Richtlinien und Vorgaben, die sie im Laufe eines Schuljahres zu erfüllen haben. Die Lehrpläne geben eindeutig vor, was in welcher Zeit vom Schüler zu beherrschen ist und was es braucht, dass der Schüler, die Schülerin in die nächste Klasse oder in eine höhere Schule steigen kann. Die Lehrmittel sind leistungsorientiert ausgelegt. Somit ist Stress nicht nur ausnahmsweise vorprogrammiert - für die Schüler wie auch für die Lehrerschaft, aber auch für die Eltern. Für die Kinder ist es in jedem Fall ein Vorbote darauf, was sie im Leben als Erwachsene in der heutigen Leistungsgesellschaft erwarten wird. Und nicht zu unterschätzen ist jenes nebenbei, was ein Kind heute ausser der Schule auch noch in seinen Tagesablauf miteinzupacken hat. Oft ist es eher zu viel denn zu wenig. Von den Nachhilfestunden in Mathe und Latein bis zum Ballettunterricht, vom Fussball-training bis zu den Trainingsstunden im Turnverein, dem Schwimmclub, vielleicht auch dem gemeinsamen Üben im Musikverein oder der Musikschule. Und die Pfadfinder, die Jungwacht und den Blauring gibt es ausserdem noch.
Während bei der Generation unserer Kinder (die heute im Alter von über vierzig bis über fünfzig sind) die schulische Neuzeit schon eingeläutet war und alles schon sehr methodisch vonstattenging, war zu unserer Zeit der Unterricht insbesondere in der Primarschule eine wenig strukturierte, eine eher geruhsame Angelegenheit, dies ohnehin für die besseren Schüler. Während man heute sorgsam darauf achtet, möglichst übersichtliche Klassen zu bilden, waren zu unserer Zeit schon mal dreissig bis vierzig Kinder gleichzeitig im Schulzimmer. Dass die Lehrperson bei einer solchen Anzahl Schüler nicht stets jedes Kind im Auge behalten konnte, ist logisch. Entsprechend konnte man leicht «abtauchen» indem der Finger bei den Fragen des Lehrers nicht in die Höhe schnellte. Dann lief die Schulstunde weitgehend ereignislos an einem vorbei. Allerdings kam auch in unserer Zeit letztlich die Leistungsfähigkeit eines Schülers dennoch an den Tag, wenn es darum ging eine Klausur im Rechnen (wie eine Mathematik-Prüfung damals hiess) abzuliefern, ein Diktat oder einen Aufsatz in der Deutschstunde zu schreiben. So waren am Ende eines Schuljahres die Zeugnisnoten dennoch recht aussagekräftig hinsichtlich des Leistungsvermögens eines Schülers. Ich war stolz darauf in den ersten fünf Schuljahren im Zeugnis in jedem Fach eine 1 oder zumindest ein 1-2 stehen zu haben (Notenskala 1 – 5, wobei 1 = sehr gut bedeutete, 2 = gut, 3 = mittelmässig, 4 = genügend, 5 = ungenügend). Der Kommentar der Mutter war stereotyp gleich: «Auch ich hatte stets gute Noten, ausser im Rechnen! Da hatte ich oft einen Dreier!» Dies bedeutete nichts anderes, als dass man von uns Kindern gute Noten als eine Art Selbstverständlichkeit erwartete. Auch mein Vater konnte sich niemals durchringen, mir je ein Kompliment zu machen, weil er ein solches Zeugnis, wie ich es präsentierte, normal fand. Dabei hatte ich innerhalb unseres Familienverbandes harte Konkurrenz, denn die beiden Geschwister Werner und Magdalen, die nach mir kamen, übertrafen mich mit noch besseren Zeugnisnoten. In den Zeugnissen von Magdalen erschien in der ganzen Primarschulzeit in jedem Fach stets nur eine Note, nämlich eine 6 in allen Fächern (ausser der Handarbeit, welche sie wenig begeisterte). In diesem Fall war nun eine 6 die beste Note = sehr gut. Und auch in den nachfolgenden Schulen, dem Gymnasium und der Uni setzten sich ihre Erfolge auf oberstem Level fort. Die logische Folge war, dass Magdalen schon in jungem Alter einen Doktorhut hatte. Die Zeugnisse von Werner sahen ähnlich aus, wie jene von Magdalen. Aber der Bruder neigte dazu einerseits ziemlich bequem zu sein (was er sich leisten konnte) und andererseits ein vorlautes Mundwerk zu haben. Unter diesen Umständen musste erwartet werden, dass die Betragen-Note nicht in jedem Jahr ein «sehr gut» war, sondern es gab Zeugnisse, wo nur ein «gut» eingetragen war. Und persönliche Notizen der Lehrer liessen sich in Werners Zeugnissen ausserdem finden, zum Beispiel «etwas vorlaut». Eine Betragen-Note, die kein «sehr gut» beinhaltete und individuelle Bemerkungen des Lehrers im Zeugnis waren generell ziemlich unpopulär, denn sie bedeuteten so etwas wie ein Klecks im Reinheft eines Schülers. Allerdings veranstalteten unsere Eltern deswegen kein Drama. Ein solcher Satz rang unseren Eltern höchstens ein wissendes Lächeln ab. Denn sie kannten ihre Kinder ja ziemlich gut. Immerhin konnte ich mir auf meine persönliche Fahne schreiben, teilweise der Hauslehrer der jüngeren Geschwister gewesen zu sein. Auf