von wegen früher war alles besser. Hermann GrabherЧитать онлайн книгу.
jünger als ich und insbesondere bis zum Beginn der Schulzeit machten wir alles zusammen. Wir hatten nie Streit, alles verlief harmonisch. Dabei betrachtete der Kleine mich Grösseren als wegweisend in Sachen Verhalten. Wenn meine Mutter damals erzählte, dass es bei uns Buben – ihren Kindern - niemals Streit gebe, hielt dies jedermann für die Übertreibung einer Mutter mit dem Hang das Leben in schönen Farben zu malen. Aber dies war mit Sicherheit nicht der Fall, denn unsere Mutter wurde während der Kriegsjahre von Sorgen geprüft. Unser Vater, ein immerwährender Optimist, hatte sich niemals vorstellen können, dass sich Adolf Hitler (der Wahnsinnige, wie Vater sich jeweils ausdrückte) als Machthaber etablieren würde. Unser Vater hatte gute, einflussreiche Schweizer Freunde und die empfahlen ihm dringend, sich schnellstens um die Schweizer Staatsbürgerschaft zu bemühen. Unser Vater – nie in seinem Leben ein Meister rascher Entschlüsse – meinte, dass dies Zeit habe. Leider zeigte sich schnell, dass dieses Verhalten ein fataler Fehlentscheid war mit schwerwiegenden Folgen für ihn persönlich, wie auch für unsere Familie. Was unser Vater niemals erwartet hatte, trat ein: Als gebürtiger Lustenauer wurde er 1942 von der Deutschen Wehrmacht kompromisslos eingezogen und in den Krieg geschickt Auftrags eines Regimes, das er zutiefst verabscheute und verachtete. Dies auch unabhängig davon, dass er als gewaltloser Mensch hinsichtlich psychischer und auch physischer Bereitschaft völlig ungeeignet war für einen Dienst als Soldat und als Krieger ohnehin. Die Androhung der Nazis, bei einer allfälligen Weigerung auf die alternden Eltern Regress zu nehmen, zeigte Wirkung. Der Vater hatte keine Wahl. Mit Hitlers Schergen liess sich nicht diskutieren und ohnehin nicht spassen. Unsere Mutter war genötigt in Abwesenheit des Geschäftsmannes, Ehepartners und Vaters ihrer Kinder die Firma zu führen - ein Akt voller Probleme und Schwierigkeiten für die Frau, welche ursprünglich von Beruf Näherin war. Immerhin hatte sie etwas Führungserfahrung, denn sie war vor der Heirat Kursleiterin für Frauen, die auf der Maschine nähen lernen wollten.
Ich nahm den Krieg in den ersten fünf Jahren meines Lebens sehr bewusst als überaus bedrohlich wahr. Mein Verhalten war abgeklärt und reif, somit ziemlich untypisch für ein kleines Kind. Der Vater fehlte ab meinem zweiten Lebensjahr und dies war eine riesige Lücke. Allerdings pflanzte die Mutter als sehr gläubige Frau in mir den unerschütterlichen Glauben ein, der Vater würde allen Gefahren widerstehen könne. Dabei ging es nicht darum, den Vater zu heroisieren, sondern im Gegenteil, Mutter sagte, dass es Gott sei, welcher allzeit die schützende Hand über ihn halten werde und dafür sorgen würde, dass er dereinst wohlbehalten in unsere Familie zurückkehren werde. Diesbezüglich hatte ich ein absolutes Vertrauen in die Mutter, ich glaubte ihr ohne jegliche Einschränkung. Andererseits war das Thema «Krieg» bei den Erwachsenen, die in unserem Haus ein und aus gingen, ein allgegenwärtiges, ein sehr dominantes Dauerthema – umständehalber viel präsenter als bei normalen Schweizer Familien. Und ich hörte stets mit spitzen Ohren mit, was gesprochen wurde, insbesondere wenn die grossen Leute flüsterten. Und sie flüsterten oft und leidenschaftlich. Diese rechneten nicht damit, dass sich das Kind für die Themen der Erwachsenen interessieren würde. Und sie rechneten ohnehin nicht damit, dass dieses Kind die Zusammenhänge verstehen würde. Aber das Kind verstand diese Welt der Erwachsenen immer besser. Ich interessierte mich dafür und ich brachte die Zusammenhänge immer logischer auf die Reihe, auf jeden Fall viel besser als man mir das zutraute. Krieg war für mich das Synonym für Verwüstung, Zerstörung und Tod, der Inbegriff des Bösen! Auch die fünf Brüder meiner Mutter und ein Bruder meines Vaters dienten als Soldaten im Krieg. Die Sorge meiner Mutter galt ihnen in gleicher Weise. Mehrere Male fühlte ich mich auch persönlich bedroht, zum Beispiel wenn hunderte Flugzeuge der US-Streitkräfte in niedriger Höhe über das Rheintal gegen Norden flogen, um Minuten später ihre tödliche Fracht über der Stadt Friedrichshafen am Bodensee – nur 50 Kilometer entfernt von uns - abzuwerfen. Die Detonationen der dicht aufeinander folgenden Bombeneinschläge drangen in sehr bedrohlicher Weise bis zu uns vor und liessen die Erde unter unseren Füssen beben. In solchen Momenten weinte meine Mutter und sagte, dass nun wieder hunderte unschuldige Menschen sterben müssten und tausende obdachlos würden. Ich versuchte sie in jedem Fall zu trösten, ihr Halt zu geben. Ich erinnere mich auch noch gut an die Nacht im Jahr 1945, als die französischen Befreier von Norden her in Vorarlberg einmarschierten und die letzten Widerstandsnester in und um Götzis mit Kanonen beschossen wurden. Die Leuchtspuren wiesen den Weg der Kanonenkugeln: In weitem Bogen flogen die Geschosse seitlich an uns vorbei und schlugen weniger als 20 Kilometer von uns entfernt ein. Dort wo sie nieder gingen, war das mit lauten Detonationen verbunden und es entstand eine Feuersbrunst, die den Himmel in gespenstiger Weise erhellte. Noch zehn Jahre später waren am Kirchturm von Götzis Dutzende Einschläge zu sehen. Der Turm war beschädigt, aber er stürzte nicht ein. Meine Mutter erklärte, dass Gott die Kirche beschützt habe. Die Einwohner von Götzis erzählten später, dass durch die Einschläge der Granaten der Turm zu vibrieren begann und die Glocken ähnliche Töne von sich gaben, als hätte man sie geläutet. Meine Erinnerung ist auch noch frisch hinsichtlich eines anderen Ereignisses, das mich stark beschäftigte: Ein Amerikanisches B17-Flugzeug stürzte in unserer Gegend ab. Mit auffällig unregelmässig knatternden Motoren und einer Rauchschwade hinter sich nachziehend, stürzte der Flieger in einiger Entfernung ins Feld. Die Besatzung rettete sich mit Fallschirmen aus der Maschine. Meine Tante Sidy, ein junges Mädchen von nicht mal 25 Jahren, die zur Entlastung der Mutter in unserem Haushalt tätig war, zog mir und Werner eilig die Schuhe an und nahm uns an der Hand. Und was mir auch noch geblieben ist: In ihrer Aufregung beachtete die Tante nicht, dass der linke Schuh an meinem rechten Fuss sass und der rechte Schuh am linken Fuss. Aber Zeit zum Wechseln gab es nicht mehr. Zwei Besatzungsmitglieder trug es mit ihren hellen Fallschirmen in unsere unmittelbare Nähe. Einen trieb es nach Osten ab und wir mussten annehmen, dass er in den Rhein stürzte oder eben auf die andere Rheinseite. Der zweite Fallschirmspringer versuchte verzweifelt gleichfalls auf die andere Rheinseite zu gelangen, was meine Tante nicht fassen konnte. Er zerrte an den Leinen und zappelte mit seinen Beinen, so als wäre er ein Hampelmann. Schlussendlich purzelte er wenige Meter vor uns zu Boden und der weiss gleissende Fallschirm bedeckte ihn vollständig. Schliesslich krabbelte er – ein sehr junger Mann, wie ich erkannte – unter dem Stoff hervor und blickte uns mit erschrockenen Augen an. Meine Tante, die auch Englisch sprach, beruhigte ihn in seiner Sprache. Sie eröffnete ihm, dass er Glück habe, denn hier sei er in der Schweiz angekommen, was ihn offensichtlich erstaunte. Er hatte geglaubt, dass diese Seite Feindesland sei und auf der anderen Seite des Rheins die Schweiz. Meine Tante, eine eher resolute junge Frau, bemerkte auf Deutsch, dass Amerikaner offensichtlich keine Ahnung in Sachen Geografie hätten. Der Mann fragte, wo sein Kamerad sei. Tante Sidy antwortete, dass er entweder in den Rhein gefallen sei oder eben wohl auf Feindesland, was ihn sichtlich traurig stimmte. Schon nach wenigen Minuten langte eine Patrouille der Schweizer Armee ein und lud den Amerikaner samt Fallschirm in den Jeep ein und fuhr davon. Dabei wurde der Amerikaner mit harschen Worten empfangen und sehr grob geschubst, was mir absolut missfiel und meiner Tante ebenso. Sidy sagte in aufgebrachtem Ton zu den Schweizer Soldaten, dass sie anständig sein sollten zum armen Kerl. Diese maulten zurück, dass dies kein armer Kerl sei, im Gegenteil, er sei ein Glückspilz, weil für ihn nun der Krieg vorbei sei und er noch immer am Leben.
Mein Vater gelangte nach Ende des Krieges noch in Gefangenschaft der Alliierten, kehrte schliesslich 1946 wohlbehalten heim.
Ein Jahr später wurde ich eingeschult, ohne zuvor den Kindergarten besucht zu haben. Meine Mutter hatte befunden, dass es mir zuhause mit dem Bruder als Spielkamerad besser gehen würde. In der Schule lernte ich dann andere Sitten kennen. Als friedfertiges Kind, das jeglicher Streiterei aus dem Weg ging, wurde ich fallweise Opfer aggressiver (allerdings soweit nicht bösartiger) Buben. Weil ich mich niemals aktiv wehrte, fiel ich dem schönsten Mädchen in der Klasse auf: Judith. Judith teilte mit mir den Sinn für Gerechtigkeit. Ihr gefiel ganz offensichtlich mein gewaltfreies Verhalten. Sie stürzte sich beherzt - sich selbst nicht schonend – an meiner statt in den Kampf gegen die Übermacht der Buben, sobald ich von diesen bedrängt wurde. Denn Judith war nicht nur schön, sondern ebenso kräftig und mutig. Und sie besass gleich mir einen Sinn für Friedfertigkeit, Ruhe und Ordnung. Mit Lineal und Griffelschachtel verteidigte sie mich so vehement, dass im Laufe der Zeit dies und jenes zu Bruche ging. Ich verliebte mich in meinen starken Schutzengel, sie wurde mein Schulschatz. Zwanzig Jahre später heirateten wir, Judith und ich. Vor einigen Jahren feierten wir unser Goldenes Ehejubiläum – Sie wissen, es bedeutet 50 Jahre verheiratet.
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