ALLTAG WAR GESTERN. Kurt BauerЧитать онлайн книгу.
meiner Reisen nach Venedig. Dort hatte ich so ein Erlebnis mit einem Kreuzfahrtschiff. Ich stand am Markusplatz und plötzlich senkte sich ein Schatten herab. Da gerade zuvor die Sonne noch hell geschienen hatte, konnte ich mir nicht erklären, wo auf einmal dieser Schatten herkam. Bis ich dann das Kreuzfahrtschiff, einem schwimmenden Wolkenkratzer gleich, zu Gesicht bekam. Das war ein Gänsehautmoment. Das Schiff zog in unbeschreiblicher Eleganz vorüber, tausende Kameras klickten und versuchten, diesen Augenblick einzufangen.
Mit dem Informationsstand von heute sehe ich das ganz anders. Das Corona-Virus zeigt mir eine völlig neue Dimension dieser Geschichte auf. Ich bin dafür, dass keines dieser Monster mehr Erlaubnis erhält, nach Venedig hineinzufahren.
Tagebucheintragung 26.03.2020
Beim Frühstück lese ich Zeitung. Neben der Schlagzeile „Prinz Charles an Corona-Virus erkrankt“ steht eine zweite Meldung: „Trump: Tausende Suizide größere Gefahr als Corona“. Als Untertitel ist angeführt „Wirtschaftskrise ist schlimmer als Virus, zeitgleich warnt die Studie vor Millionen Toten“.
Ich lese im Text: „Die Oma retten oder die amerikanische Wirtschaft, auf diese makabre Gleichung lässt sich zusammenfassen, was derzeit in den USA bei der Bekämpfung der Corona-Seuche abläuft. Präsident Donald Trump hat seine Entscheidung schon gefällt. Und nimmt, wenig überraschend, kaum Rücksicht auf das Leben der amerikanischen Großeltern. So hat der Senat im US-Kongress nach schwierigen Verhandlungen zwar ein mit zwei Billionen Dollar durchaus beachtliches Konjunkturprojekt als Hilfestellung für die US-Wirtschaft verabschiedet. Donald Trump rechnet mit bis zu 2,2 Millionen Toten in den USA, dennoch sieht er bereits `Licht am Ende des Tunnels`. `Ich will das Land bis Ostern wieder geöffnet und in den Startlöchern haben`, sagte er. Denn die größte Gefahr seien `Tausende Selbstmorde` in Folge einer Rezession. Gleichzeitig erklärt sein Vize-Präsident Mike Pence die Stadt New York zum Hochrisikogebiet …“.
Diese Nachricht sitzt bei mir wie ein Schlag in die Magengruppe. Mir ist übel. Das Frühstück schmeckt mir nicht mehr. Ich kann nicht glauben, was ich da lese. Das ist unglaublich. Ich könnte schreien vor Wut. Ich finde, dass Trump ein Egoist erster Klasse ist und frage mich: Hat er denn keine Oma und keinen Opa? Was treibt ihn zu solchen Aussagen, die er sowieso in zwei Tagen wieder zurücknimmt? Amerika mit diesem maroden Gesundheitssystem, das nur funktioniert, wenn du die Kreditkarte zückst. Ich versuche, mich wieder zu beruhigen, letztlich kann man seine Aussagen ohnehin nicht ernst nehmen.
Im Vergleich mit unserem Gesundheitssystem und der Fürsorge für alte Menschen durch unsere Regierung kann ich das einfach nicht fassen und nur hilflos mit den Schultern zucken. Die Hochrechnungen, die ich kenne, sind furchterregend. Frankreich, Italien und Spanien stehen mangels ausreichender Intensivbetten vor der Realität, auswählen zu müssen, wer von den Kranken eine Behandlung bekommt. Alte fallen durch. Sie haben keinen wirtschaftlichen Wert!
DIE SORGEN DER ELTERN UM IHREN SOHN
Beim Abendessen krachten wir zusammen. Das kam so. Bernhard, unser Sohn, erklärte ohne Umschweife, dass er diese Wichtigtuerei mit dem Corona-Virus als blanken Unsinn betrachte. „Das ist ja eine Unterdrückung der freien Meinung. Im Internet stehen unglaublich kluge Sachen, und die werden von der Regierung bloß unterdrückt!“ Bernhard kochte. Er fühlte sich in seiner Meinung massiv eingeschränkt. „Nichts als fake news, diese Dinge im Internet!“, entgegnete ich und konnte die Bremse einfach nicht mehr ziehen. So kam es, wie es kommen musste, wir stritten uns!
Natürlich war mir aufgefallen, dass sich Bernhard durch die Krisenmaßnahmen der Regierung sehr stark eingeengt fühlte. Und nun auch noch von mir! Er sprang auf, schmiss das Besteck hin, schnappte sich den Autoschlüssel und verließ grußlos den Raum. Schlagartig herrschte Stille. Meine Frau und ich sahen einander betroffen an. Das hatte gesessen. Ich machte mir jetzt Vorwürfe, aber es war zu spät, und im Übrigen ist man im Nachhinein sowieso immer klüger.
Wir hatten es Bernhard ermöglicht, dass er eines unserer beiden Autos für sich nutzen konnte. Er war gerne bei seinen Freunden und trieb sich mit ihnen durchaus bis spät in die Nacht herum.
Das Abendessen war für uns nun auch beendet, und wir zerbrachen uns die Köpfe, was wir hätten anders machen können. Aber im Grunde konnten wir jetzt nichts tun und nur darauf hoffen, dass er wieder nach Hause kam. Meine Frau sagte: „Der kommt schon wieder, lass ihn nur erst einmal abdampfen.“ Ich murmelte etwas wie Zustimmung. Trotzdem war mir nicht wohl bei dieser Sache. Ich überlegte mir, ob ich ihn anrufen sollte oder nicht. Ich ließ es bleiben.
Bis dato war es so, dass Bernhard nachts oft wegblieb, also bis ungefähr 5: 00 Uhr morgens. Ich erwartete also, dass das wieder so sein würde.
In dieser Nacht schlief ich schlecht. Immer wieder war ich mit einem Ohr im Flur, um die charakteristischen Geräusche zu hören, wenn die Tür ins Schloss fiel. Nichts dergleichen passierte.
Am Morgen war Bernhards Bett leer und ich hatte einen flauen Magen. Meiner Frau ging es ebenso. Wir versuchten, unseren Sohn am Handy anzurufen, aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Der sagte mit einem Quieken in der Stimme: „Beim nächsten Signalton können Sie Ihre Nachricht hinterlassen!“ Aber ich wollte doch keine Nachricht hinterlassen, sondern ihn direkt erreichen! Daher sagte ich zu meiner Frau: „Das hat er noch nie gemacht, egal wie lang er in der Nacht aus war. In der Früh war er bisher immer zu Hause.“
Jetzt war guter Rat teuer. Die Stunden schlichen nur so dahin, und unsere Sorgen wurden immer größer. Meine Frau meinte: „Jetzt können wir nur warten, bis er sich rührt.“ Und ich antwortete bedrückt: „Vielleicht habe ich ihn zu hart angefasst!“ Meine Frau kommentierte: „Ich glaube, dass er einfach auch Angst vor dem Corona-Virus hat, nach all dem, was er davon mitbekommt. Dann auch noch die Einschränkungen seiner Freiheit.“
Weitere Stunden verflossen zäh und langsam, wir hatten immer noch nichts von Bernhard gehört. Nach meiner Sieben-Kilometer-Runde, die ich jeden Tag gehe, entschloss ich mich, endlich zu handeln.
Zu Hause angekommen, sprach ich darüber mit meiner Frau: „Ich mache mir große Sorgen um Bernhard. Immer und immer wieder habe ich versucht, ihn am Handy zu erreichen. Nichts!“ Sie pflichtete mir bei und meinte: „Er hat sich bis jetzt auch immer gemeldet, wenn es etwas Außergewöhnliches gab.“ „Ja“, teilte ich ihr meine Sorge mit, „es könnte einen Unfall gegeben haben. Vielleicht liegt er im Straßengraben.“ Ich sah, wie meine Frau erschrak. „Weißt du was“, fuhr ich fort, „ich gehe zur Polizei und melde Bernhard als abgängig, aber vorher schaue ich noch bei seinem Freund Josef in der Siedlung vorbei. Vielleicht weiß er etwas.“ Meine Frau nickte. Meine Angst um Bernhard war jetzt zu einem Kloß im Hals geworden.
Mit dem Auto fuhr ich zu Josef, der mir sofort öffnete. Er begrüßte mich höflich und fragte nach meinem Anliegen. „Josef, weißt du, wo Bernhard geblieben ist?“ „Nein“, meinte er, „Bernhard und ich waren heute bis um 02: 00 Uhr morgens zusammen, und dann fuhr er weg.“ Ich fragte weiter: „Hat er dir etwas gesagt, was er danach tun wird?“ Josef antwortete: „Er sagte nur, dass er noch etwas zu erledigen habe. Dann ging er.“ Ich bedankte mich bei Josef, stieg ins Auto und fuhr weiter zur Polizeidienststelle. Da das Postenkommando der Polizei nicht besetzt war, hinterließ ich dem Anrufdienst meine Telefonnummer und meine Adresse. Ich bekam die Information, dass der Streifenwagen in der nächsten halben Stunde bei mir vorbeischauen würde. Dann fuhr ich nach Hause.
Etwas später klingelte es an der Haustüre. Als ich öffnete, standen zwei Polizisten vor mir. Ich bat sie herein. Wir achteten jeweils auf einen Meter Abstand. Die Beiden nahmen Platz und fragten mich, was sie für mich tun könnten. Ich erzählte ihnen, dass Bernhard abgängig und am Handy nicht erreichbar sei. Und dass Josef, sein Freund, auch nicht mehr wisse. Ich bat um Hilfe. Die Polizisten nahmen das Protokoll auf. Beruhigend war, dass es in der Nacht keinen Unfall gegeben hatte. Das ließ mich aufatmen. Gott sei Dank. Sie rieten mir, bei allen Krankenhäusern in der Umgebung anzurufen und sicherten mir zu, dass sie eine Suche einleiten würden. Meine Frau und ich bedankten uns, und ich begleitete beide Polizisten zur Tür. Sofort griff ich zum Handy und rief die Krankenhäuser an. Die Antwort war negativ und für uns beruhigend. Aber die Frage war: Wo steckte Bernhard?
Die Antwort