DAS MEDIZIN-ESTABLISHMENT. H. T. ThielenЧитать онлайн книгу.
subjektiv als die Abwesenheit von Krankheit – eine Sichtweise, welche die Vielschichtigkeit krankmachender Faktoren jedoch nicht ausreichend berücksichtigt.
Da weder auf juristischer noch auf medizinischer Ebene eindeutige und allgemeingültige Definitionen zur Verfügung stehen, möchte ich zunächst die recht banale Begriffsauslegung der Weltgesundheitsorganisation WHO anführen. Laut ihr ist Gesundheit „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“18 Gemäß dieser Begriffsdeutung ist Gesundheit ein absolut idealer, aber unrealistischer Zustand, da er praktisch nicht verwirklicht werden kann.
Um die unterschiedlich geprägten Ausrichtungen und Konzeptualisierungen von Gesundheit kategorisieren zu können, sind, je nach wissenschaftlicher Ausrichtung der Autoren, diverse andere Ansätze entwickelt worden, die, aufgrund der Heterogenität des Themas, im Rahmen dieser Arbeit nur fragmentarisch dargestellt werden können.
Der Medizinsoziologe Talcott Parsons erklärt Gesundheit – aus soziologischer Sicht – als „ein Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums, für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist.“19 Diese rein zweckmäßige und somit inhumane Betrachtungsweise reduziert den Menschen zu einer gesellschaftlichen Bestimmungsgröße, welche eine ihm vorgegebene Funktion – vorrangig im Beschäftigungssystem – zu erfüllen hat. Gesund ist derjenige, der diese Anforderungen optimal erfüllt. Die individuellen Bedürfnisse der Menschen haben laut dieser Definition, da für die Gesellschaft sekundär, keine maßgebende Relevanz.
Die überwiegende Mehrheit der Gesundheitswissenschaftler fordert allerdings, dass Gesundheit vom Menschen ausgehend zu betrachten ist und alle konkreten Einflussfaktoren und Wechselwirkungen des Lebens zu berücksichtigen sind. Gesundheitsaspekte können folglich nicht isoliert betrachtet werden, sondern sie spiegeln sich in den verschiedensten Lebenssituationen wider. Dabei ist die Verbundenheit von körperlichen, emotionalen sowie kognitiven Prozessen als wesentliches Zeichen von Gesundheit zu verstehen und bekräftigt ihren ganzheitlichen Charakter.20
In diesem Sinne verstehen Jürgen von Troschke et al. Gesundheit als „somatische, psychische und soziale Fähigkeit zur Lebensgestaltung und -bewältigung.“21
Klaus Hurrelmann definiert Gesundheit als einen „Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet.“22
In diesem Kontext ist Gesundheit nicht konkret machbar; sie stellt sich selbst her, wenn bestimmte Bedingungen in Balance sind. Sie ist beeinträchtigt, wenn sich in einem oder mehreren dieser Bereiche Anforderungen ergeben, die von der Person in der jeweiligen Phase im Lebenslauf nicht erfüllt und bewältigt werden können.23 Gesund ist, diesen Ausführungen zur Folge, ein Mensch, wenn er sich in „ allgemeiner Harmonie“ befindet, das heißt, wenn sich die existenten Risiko- und Schutzfaktoren ausgleichen.
Für den negativ besetzten Begriff Krankheit gibt es weder bei der WHO noch im deutschen Gesundheitsrecht eine allgemein anerkannte, einheitliche Definition. Vermittels Modellbildung haben medizinische Forscher unterschiedliche Begriffsbestimmungen entworfen.
Nach dem pathogenetisch24 orientierten „biomedizinischen Modell“ ist Krankheit eine Störung des Organismus, verursacht durch anatomische, physiologische oder biochemische Abweichungen. Die Krankheitsursprünge werden als rein körperlich und damit als naturwissenschaftlich eindeutig erklärbar eingestuft.25 Der Arzt stellt ein Pathogen, beispielsweise einen Krankheitserreger, fest und bekämpft es mit Medikamenten oder anderen Therapien.26
Dieses Konzept war lange Zeit die vorherrschende medizinische Denkweise und Grundlage eines sich darauf aufbauenden allopathischen27 Gesundheitssystems. Auch heute ist das medizinische Studium sehr stark von dieser Leitvorstellung geprägt. Es findet faktisch eine Zweiteilung in gesunde und kranke Menschen statt. Die dahingehend orientierten Ärzte legen ihren Fokus auf die zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorliegenden Krankheiten (Symptome), ihre Ursachen und die Gefahren, die es zu verhindern oder zu bekämpfen gilt. Sie diagnostizieren eine Erkrankung28, entschlüsseln deren Ursachen, leiten spezifische Therapiemaßnahmen ein und geben, so sollte es zumindest sein, unterstützende Informationen und Ratschläge, um einen erneuten Ausbruch der Krankheit zu verhindern.
Pathogenetisch orientierte Ärzte behandeln demgemäß lediglich die zum Zeitpunkt der Behandlung vorliegende Erkrankung, d. h., es werden im Prinzip Gefechte gegen einzelne Krankheitsbilder oder Erregergruppen geführt. Diese eindimensionale Betrachtungsweise – Krankheit ist ein lineares Folgeprodukt einer Ursache – und die ihr innewohnende Tendenz, einen direkten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang der Krankheit herzustellen, ist nicht unumstritten, denn sie negiert die Vielschichtigkeit von krankmachenden Faktoren. Für viele Erkrankungen lassen sich explizit keine eindeutigen Auslöser angeben, denn sie entwickeln sich aus einer Komplexität von unterschiedlichen und oft sehr schwer erkennbaren Risikofaktoren.
Neben diese klassische pathogenetische Sichtweise sind in den letzten Jahrzehnten verschiedene neu entwickelte Konzepte mit erweitertem Erklärungsansatz getreten.
In den 70er Jahren formulierte der US-amerikanische Sozialmediziner George L. Engel ein erweitertes Krankheitsmodel, das „bio-psycho-soziale Krankheitsmodell“, welches sich nicht auf ein körperliches Phänomen reduziert, sondern Körper, Seele und Milieu einbezieht (Leib-Seele-Dualismus).29 Aufgrund seiner „Ganzheitlichkeit“ wurde dieses Modell zu einem wegweisenden Leitbild in den Gesundheitswissenschaften.
Etliche Forscher folgten diesem Gedankengang. Der Physiologe Robert F. Schmidt bezieht sich in seiner Definition von Krankheit beispielsweise ebenfalls auf dieses Modell und deutet sie als „das Vorliegen von Symptomen und/o der Befunden […], die als Abweichung von einem physiologischen Gleichgewicht oder einer Regelgröße (Norm) interpretiert werden können und die auf definierte Ursachen innerer oder äußerer Schädigungen zurückgeführt werden können“.30
Im Medizinlexikon „DocCheck Flexikon“ wird Krankheit, in Bezug auf das bio-psycho-soziale Modell, als „eine Störung der normalen physischen oder psychischen Funktionen [beschrieben], die einen Grad erreicht, der die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden eines Lebewesens subjektiv oder objektiv wahrnehmbar negativ beeinflusst. Die Grenze zwischen Krankheit und Befindlichkeitsstörung ist fließend“31. Krankheit ist in diesem Sinne ein Zustand verminderter Leistungsfähigkeit, der aufgrund von Funktionsstörungen der Organe, der Psyche oder des gesamten Organismus ausgelöst wird.
Anhand dieser allgemein gebräuchlichen Begriffsbestimmungen wird zunehmend deutlich, dass Krankheit und Gesundheit keine eindeutig determinierten Termini sind und sich nicht exakt voneinander abgrenzen lassen, wie es in der pathogenetischen Sichtweise angenommen wird. Sie sind ein gegeneinander agierender und geschlossener dynamischer Prozess.
Auf dieser Basis erarbeitete der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky in den 70er Jahren das Konzept der „Salutogenese“32. Die Mediziner sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Gesundheits-Krankheits-Kontinuum“33, d. h., dass wir weder ganz gesund noch krank sind, sondern wir befinden uns entweder näher am Pol Gesundheit oder eben weiter davon entfernt in Richtung Krankheit.)
Unser gesamtes Leben ist ein „Gesundheits-Krankheits-Kontinuum“, da wir ständig unsere Befindlichkeitspositionen wechseln. Manchmal sind wir näher am Eckpunkt Gesundheit und fühlen uns gesund, verschiedentlich sind wir jedoch weiter davon entfernt und damit krank. Unsere temporäre Befindlichkeit, also das Stadium, in dem wir uns befinden, hängt dabei von einer Vielzahl divergenter Faktoren ab, wie z. B. vom sozialen Umfeld, den psychologischen und biologischen Dispositionen, von den vielfältigen Umwelteinflüssen und der Lebensgeschichte der Menschen, die auf uns einwirken.34
Das Konzept der Salutogenese stellt Gesundheit und die gesundheitsförderlichen Voraussetzungen in den Mittelpunkt seiner Maßnahmen, indem es untersucht, auf welche Weise sich die Menschen in Richtung Gesundheit entwickeln und