Der Elternkompass. Nicola SchmidtЧитать онлайн книгу.
ES IST BESSER, ALS WIR GLAUBEN
Heben wir den Blick, und stellen wir mal ganz nüchtern fest: Es ist eigentlich alles da. Wir leben in einer Zeit, die weniger in einer Krise steckt, als wir glauben; denn die meisten Lösungen für unsere Probleme sind schon vorhanden. Sie sind längst im Kleinen ausgedacht, ausprobiert und umgesetzt – und funktionieren ganz erstaunlich gut.9 Es gibt sie bereits, die Ideen für eine »gute, eine mögliche Zukunft«.10
Allein, uns fehlen momentan die Kraft, die Fantasie und der Mut. Statt dass wir, wie die Klimaaktivistin Greta Thunberg vor dem World Economic Forum in Davos 2019 forderte, »in Panik« ausbrechen (was uns im Übrigen wenig helfen würde), diagnostiziert uns der Historiker und Journalist Rutger Bregman genau das Gegenteil: Wir würden »im Koma liegen«11 und könnten uns eine bessere Zukunft gar nicht mehr vorstellen. Das hat auch viel mit unserer eigenen Kindheit zu tun, die uns oft ratlos, in Hilflosigkeit und unerfüllt zurückgelassen hat.
Es gibt sie längst, die Ideen für eine lebendige und lebenswerte Zukunft. Wir leben in einer Zeit, die weniger in einer Krise steckt, als wir glauben; denn die meisten Lösungen für unsere Probleme sind schon vorhanden.
Der bereits zitierte Autor Harald Welzer ist der Ansicht, wir Menschen in den Industrienationen seien gefangen in unerfüllten Bedürfnissen, die wir mit den Annehmlichkeiten des Hyperkonsums kompensieren müssen. In meinen Familiencamps sehen wir das jeden Sommer ganz konkret: Wenn wir mal Fernsehen, Internet, Alkohol und Zucker weglassen und einfach eine Woche lang in der Natur leben, kommen sie plötzlich wieder hoch, die großen Fragen: Warum bin ich hier? Warum lebe ich so, wie ich lebe? Was will eigentlich ich? Warum ist die Welt so, wie sie ist? Und nicht zuletzt: Warum habe ich viele Probleme, die ich zu Hause habe (wo doch angeblich alles so angenehm ist), plötzlich nicht mehr, wenn ich in einer Gruppe von anderen Familien »draußen« lebe? Nicht wenige gehen aus diesen Camps wieder nach Hause und ändern ihre Lebensweise – manche radikal, andere schrittweise, aber alle tief davon beeindruckt, wie anders sich das Leben anfühlen kann, wenn wir für einen winzigen Moment aus dem Hamsterrad des Hyperkonsums aussteigen.
Warum fällt uns das im Alltag so schwer? Nun, auch wir sind mal »erzogen« worden. Auch wir tragen Spuren in unseren Seelen, die uns schwächer machen, als wir sind.
Viele von uns leiden unter diffusen Ängsten, weil sie unter einer autoritären oder perspektivlosen Erziehung gelitten haben. Uns wurde vielfach schon als Säuglingen eine gewisse Hilflosigkeit antrainiert, damit wir dann als Kleinkinder »tun, was man uns sagt«, und »brav« sind.12 Und alle tragen wir alte, oft negative Glaubenssätze aus unserer Kindheit mit uns herum, die wir häufig ungefiltert an unsere Kinder weitergeben.13
Zeit, etwas zu verändern: Wir können das Leben unserer Kinder ab heute bewusst anders anlegen. Wir können sie bereits hier und jetzt stärker machen, als wir es je waren – und uns selbst gleich mit. Und dann können wir an einer neuen Welt mit ihnen bauen. Denn wir alle können in einer neuen, ökologischeren Welt nur gewinnen: Wir werden mehr Freunde, bessere Luft, mehr Spaß, gesünderes Essen, weniger Armut, weniger Gewalt, weniger Angst und vor allem viel, viel mehr Zeit haben. Zeit für unsere Kinder. Wie wäre es, wenn wir uns diese neue Gesellschaft erschaffen – »einfach so«? Also, wenn wir es täten, nicht, weil wir das Klima retten wollen oder weil Greta Thunberg uns dazu aufruft, sondern »einfach nur so«: für uns und unsere Kinder? Wenn wir es einfach tun, weil eine Welt mit Freunden, Radwegen, sauberer Luft und Zeitwohlstand sich einfach verdammt gut anfühlt?
WAS UNS BISHER DAVON ABHIELT, DIE WELT ZU VERÄNDERN
Wir sind gefangen in einer Welt aus strenger Arbeitsethik (nur wer Geld verdient und viel arbeitet, ist etwas wert), Hyperkonsum und sofortiger Befriedigung und gleichzeitig ständig und gezielt unbefriedigten Bedürfnissen.
Unbefriedigte Bedürfnisse? Ja, genau das. Wir sollen nämlich nicht glücklich und zufrieden sein. Dann wären wir in der Konsumgesellschaft nämlich nutzlos. Welzer schreibt: »Befriedigte Bedürfnisse sind der Tod der Wachstumsgesellschaft. Und deshalb ist ihre Geschäftsgrundlage die Produktion von Unglücklichsein.«14 Glück ist in unserer Ökonomie kein Wert, weil geschäftsschädigend.
Der Kabarettist und Autor der Känguru-Chroniken Marc-Uwe Kling fasst es knapp zusammen, während er mit dem Känguru in einer Buchhandlung steht und sein Blick über die aktuelle Ratgeberliteratur schweift: »Die Regale sind thematisch in fünf Schwerpunktgebiete unterteilt: Du bist zu hässlich, du bist zu dumm, du bist zu arm, du bist zu schlecht im Bett, und du bist generell nicht gut genug.« Dann liest er den Klappentext eines imaginären »Ratgeber-Ratgebers« vor, der die Situation so beschreibt: »Wie die vier apokalyptischen Reiter fallen Flexibilisierung, Entfremdung, Sicherheitsverlust und Erfolgsdruck über die Postmoderne her und hinterlassen unter den Trümmern der Tradition eine zutiefst verunsicherte, orientierungs- und ratlose Gesellschaft. Unerreichbare, massenmedial verbreitete Idealbilder von Schönheit, Coolness und Glück machen die Krise des eigenen Selbst zu einem Automatismus. Profitieren auch Sie vom Klima der Angst, schreiben Sie jetzt einen Ratgeber!«15
Wenn wir unsere Kinder mit einer positiven Grundausstattung ins Leben lassen, sparen sie sich all die Bücher und Seminare, die wir selbst dafür gebraucht haben.
Touché, würde ich sagen. So ein Buch wird das hier nicht sein. Denn hier geht es um unser Glück – nicht um Perfektion.
Die Forschung ist sich einig, dass Bedürfnisse einem einfachen Muster folgen: Befriedigte Bedürfnisse verschwinden, unbefriedigte tauchen immer wieder auf. Es wäre also wunderbar gewesen, wenn unsere Bedürfnisse nach Liebe, Zugehörigkeit und dem Recht auf ein sinnerfülltes Leben als Baby und Kleinkind schon erfüllt worden wären. Denn dann hätten wir das neurophysiologische Grundgerüst, das uns auch entspannt und glücklich sein lässt. Gemeinsam mit unseren Kindern können wir das immer noch lernen. Diese Reise kann etwas beängstigend sein. Es sind oft unsere eigenen alten Wunden, die uns davon abhalten, unseren Kindern die Werkzeuge für eine neue Zukunft mitzugeben – wir sind streng, also werden sie unsicher, wir sind unnahbar, also werden sie Suchende, wir sind ängstlich, also sind sie es. Aber wir können das ändern, hier und heute. Und es ist gar nicht so schwer. Natürlich dauert einiges davon ein bisschen, und wir glauben, »Zeit« wäre etwas, was wir nicht hätten, besonders nicht für unsere Kinder. Aber in Umfragen der Shell Jugendstudie16 wünschen sich die meisten Kinder vor allem eines: mehr Zeit mit den Eltern. Und diese Zeit wäre gut investiert.
Aber Zeit haben wir nicht, die Zeit hat viel mehr uns. Das Zeitregime – vor 150 Jahren noch weitestgehend unbekannt – hat uns fest im Griff. Schlaf ist ein »betriebswirtschaftliches Problem«17 geworden, und das merken wir vor allem, wenn unsere Kinder noch sehr klein sind und sich so gar nicht an den vermeintlich einzig richtigen, industriell geprägten Acht-Stunden-Schlafrhythmus anpassen lassen. Damit werden die Kinder zum Problem, zum Sand im Getriebe des Kapitalismus. Sie werden reihenweise pathologisiert, sie müssen erzogen werden, und man unterzieht sie schon als Babys einer behavioristischen Prozedur, die »abgestufte Extinktion« heißt und bei der unerwünschtes Verhalten durch Ignorieren gelöscht werden soll – ursprünglich an Hunden getestet und entwickelt für Menschen mit Angststörungen. Es liegt an uns, ob wir das mitmachen – oder ob wir uns wehren und sagen: Wir finden andere Wege.
DIE WELT NEU DENKEN
Es ist eine verrückte Welt, in der wir leben. Wir sind uns einig, dass wir den CO₂-Ausstoß begrenzen müssen, und belohnen gleichzeitig Vielflieger mit exklusivem Zutritt zur Business-Lounge, Kofferanhängern und Statuskarten.18 Wir kompensieren unsere Defizite damit, dass wir uns »etwas gönnen«. Dazu gehört auch, dass »unterm Strich« nur wir zählen und wir uns von Kreuzfahrtanbietern versprechen lassen: »Hier ist das Lächeln zu Hause«, wenn bei uns zu Hause längst der Terror des »Beeil dich!« eingezogen ist. Wir pflegen eine Kultur, in der die Automobilindustrie immer neue Spritschlucker auf den Markt wirft, die wir dann in den Rang von Statussymbolen erheben – ein Anachronismus aus dem Zeitalter fossilen Irrsinns, den wir