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Der Elternkompass. Nicola SchmidtЧитать онлайн книгу.

Der Elternkompass - Nicola Schmidt


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WELT VERÄNDERN, INDEM WIR UNSERE KINDER ANDERS ERZIEHEN

      Sie werden in diesem Buch Dinge lesen, die möglicherweise nicht zu Ihrer Meinung passen. Vielleicht spricht einiges sogar gegen das, was Sie selbst erlebt haben oder was »man schon immer« so gemacht hat. Möglicherweise fragen Sie sich, warum ich Ihnen so unschöne Wahrheiten sage, warum ich Ihnen ein schlechtes Gewissen machen muss mit meinen Zeilen. Es fühlt sich vielleicht komisch an. Aber all das ist okay. Es ist normal. Schauen wir mit Liebe darauf! Es lohnt sich.

      ACHTSAM MIT UNS UND DER WELT SEIN

      Es gibt kaum ein Thema, das uns so tief trifft wie Erziehung. Sofort erwischen uns – ob wir Kinder haben oder nicht – grundsätzliche Fragen: Wie sind eigentlich meine eigenen Eltern mit mir als Kind umgegangen? Wie habe ich meine Kindheit erlebt, und warum fällt mir manches in meinem Leben so schwer? Haben meine Eltern bei meiner Erziehung etwas falsch gemacht? Was hätten sie besser machen können? Und was habe ich an meine Kinder schon weitergegeben? Welche Schäden werden ihnen bleiben? Was hätte ich tun sollen, was kann ich jetzt noch tun?

      In unserer eigenen Erziehung und der Erziehung unserer Kinder finden wir Antworten auf Schwierigkeiten, die wir vielleicht noch heute in unserem Leben haben, und nicht zuletzt auf Probleme, die alle Eltern, unsere Gesellschaft, ja die ganze Menschheit und damit den Planeten betreffen.

      Alles Private ist politisch, das gilt auch für die Kindererziehung. Im Jahr 2010 gründete ich für diese Fragen ein soziales Projekt (www.artgerecht-projekt.de), das fragt: Wie können wir als Homo sapiens unserer Art gerecht werden und nachhaltig auf unserem Planeten leben? Ich unterscheide dabei fünf Prinzipien, denen wir folgen: Bindung, Kontakt, Balance, Respekt und Schutz. Es sind Prinzipien, denen wir als Einzelne, aber auch als Familie und als Gesellschaft gerecht werden müssen und die zusätzlich eine planetare Dimension haben. Denn wenn wir in der Familie Liebe nicht an Bedingungen knüpfen, können wir auch eher in der Gesellschaft solidarisch sein, unserem Bäcker um die Ecke treu bleiben und anerkennen, dass Wildblumenwiesen für Bienen wichtig sind, auch wenn uns Unkrautvernichter die Arbeit leichter machen würden. Wenn wir es schaffen, selbst in Work-Life-Balance zu leben, haben wir auch mehr Raum für die Bedürfnisse aller Familienmitglieder und akzeptieren eher die Bedürfnisse des Planeten als gleichwertig zu denen des Homo sapiens.

       Das Wissen um eine gesunde Erziehung kann ein Kompass sein, der uns selbst und unseren Kindern den Weg in ein besseres und zufriedeneres Leben weist.

      Dass wir alle – Kinder, Erwachsene, Tiere und Pflanzen – Schutz, also geschützte Räume brauchen, ist ein weiterer Grundsatz unserer Arbeit. Kurz: Alles, was ich tue, basiert auf diesen Prinzipien und wissenschaftlichen Grundlagen, nicht auf meiner persönlichen Meinung. Ich stelle die Frage: Was ist nachweislich gut? Und damit arbeiten mein Team und ich.

      Ich will Ihnen mit diesem Buch einen sicheren und wissenschaftlich fundierten Kompass bei der Kindererziehung geben, die eine bessere Welt möglich macht und in unseren Kinderzimmern damit anfängt. Wenn Sie sich dabei mit Ihrer eigenen Biografie und vor allem mit Ihrer Kindheit konfrontiert sehen, sind Sie in guter Gesellschaft. Denn es gibt viele Befunde, die uns zeigen, dass die rigide Erziehung, die wir aus dem letzten Jahrhundert mitbekommen haben, auch an uns Erwachsenen nicht spurlos vorübergegangen ist. Viele von uns tragen sie buchstäblich im Kern unserer Zellen, ob wir wollen oder nicht – als epigenetische Markierungen, sozusagen durch die »geerbten« Erfahrungen unserer Eltern. Die Epigenetik untersucht die Änderungen der Genfunktion, die nicht auf einer Veränderung der DNA-Sequenz – etwa durch Mutation oder Rekombination – beruhen und dennoch an Tochterzellen weitergegeben werden (gr. epí [darauf, daneben, bei, darüber] und génesis [Zeugung, Schöpfung]).

      Somit kann das Wissen um gesunde Erziehung ein Kompass sein, der uns selbst und unseren Kindern den Weg in eine bessere planetare Zukunft weist. Denn: »Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt.«

      So abgedroschen diese Redensart auch klingen mag, so wahr ist sie dennoch. Wir befinden uns immer noch inmitten eines weltweiten Experiments, in dem eine hochentwickelte Spezies herausfinden will, ob man auf einem endlichen Planeten nicht vielleicht doch unendliches Wachstum verwirklichen kann. Und wir zerstören damit gerade sehenden Auges unsere Lebensgrundlage, weil wir immer noch an diesen Mythos glauben. Oder weil wir keinen neuen Mythos haben? Das Interessante ist ja, dass »diese Entwicklung« oder »die Politik« oder »die Wirtschaft« von Menschen gemacht wird. Von Menschen, die ein Weltbild haben, die eine Kindheit hatten, aus der sie Vorstellungen und Bedürfnisse mitgenommen haben. Und daher bin ich überzeugt: Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir bei unseren Kindern anfangen – und bei dem Kind in uns. Dann ist eine andere Welt plötzlich möglich.

      Wir brauchen eine Generation von Menschen, die gesunde Bindungen eingehen kann, und zwar nicht, weil es »modern« ist, über Bindung zu fachsimpeln, sondern weil nur Menschen mit einem gesunden Bindungssystem überhaupt in der Lage sind, Mitgefühl zu empfinden und zu denken: »Es interessiert mich, wie es den Blauwalen geht.« Menschen brauchen eine Bindung zu sich selbst, zu ihrem Nächsten, zu unserem Heimatplaneten. Der US-amerikanische Gehirnforscher Daniel J. Siegel schreibt: »Wir können auf die Zukunft der Welt einwirken, indem wir uns gut um unsere Kinder kümmern und uns absichtsvoll darum bemühen, ihnen die Beziehungen zu ermöglichen, die wir wertschätzen und die für sie zum Normalzustand werden sollten.«5 Und auch für uns ist es gut. Wenn man Sterbende fragt, was sie gern anders gemacht hätten, dann sagen sie nie: »Ich wäre gern ein größeres Auto gefahren und hätte lieber mehr Zeit im Büro verbracht.« Sie sagen, dass sie gern öfter ihre Gefühle gezeigt hätten, dass sie nicht so viel hätten arbeiten und stattdessen viel mehr Zeit für ihre Freunde und Kinder hätten haben wollen.6 Wir wollen eine Spur hinterlassen, vor allem eine soziale Spur in den Herzen unserer Mitmenschen. Denn »das menschliche Gehirn kommt im Singular nicht vor«.7

      Das Leben mit unseren Liebsten, mit Freunden und Familie – das ist der Sinn unseres Lebens. Der Homo sapiens ist eine so erfolgreiche Spezies, weil er auf Kommunikation, Kooperation und das Wechseln der Perspektive baut: Wir achten aufeinander, reden miteinander, arbeiten zusammen und fragen uns, wie es dem anderen wohl geht.

       Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir bei unseren Kindern anfangen – und bei dem Kind in uns.

      Bei unseren Kindern können wir jetzt und heute damit anfangen, diesen Sinn zu leben. Und jede Minute, die wir hier investieren, wird uns hundertfach entlohnt werden, wenn unsere Zeit eines Tages abläuft.

      Für unsere Kinder zählen die ersten tausend Tage am meisten: Hier formen sich ihr Gehirn, ihr Immun- und ihr Stresssystem, also die Art, wie sie denken, wie gesund sie sind und wie sie mit Belastungen umgehen. »Fehlschaltungen« aus der Zeit sind nur mit hohen gesellschaftlichen Kosten wieder »reparierbar«.

      Die weiteren drei Jahre bis zum Alter von sechs Jahren sind prägend für die Entwicklung von Moral und Weltsicht unserer Kinder – also die Art und Weise, wie sie die Welt sehen, wie solidarisch sie mit anderen sind, wie viel Mitgefühl sie mit Schwächeren haben und was sie von der Welt erwarten.

      Wie gesagt: Ich bin davon überzeugt, dass wir bei unseren Kleinsten anfangen müssen, um diese Welt positiv zu verändern. Bei unseren kleinen Kindern – und bei den kleinen Kindern in uns. Denn auch wir selbst sind geprägt und oft auch verängstigt von all dem, was wir als Kind selbst erlebt haben, und von den Schreckensnachrichten, die wir täglich über uns ergehen lassen müssen. Skandale, Kriege, Umweltkatastrophen – die »Bombardierung unserer Wahrnehmung durch all die negativen Einzelereignisse auf dieser Welt«, vor allem durch Nachrichten im Pay-per-Click-getriebenen Internet, kann zu einem negativen Weltbild und psychischen Belastungen führen.8 Wie können denn wir allein etwas zur Rettung der Welt tun, wenn da draußen sowieso ständig die Uhr auf fünf vor zwölf steht?

      Wie Sie bereits wissen, habe ich darauf eine Antwort: Wir können bei unseren Kindern anfangen und uns so aus einem dauerhaften Angstzustand vor der Zukunft zurück in die Selbstwirksamkeit und Schönheit der Gegenwart holen.


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