Das Netz ist politisch – Teil I. Adrienne FichterЧитать онлайн книгу.
einig: Am 6. November 2010 sollen 950 zufällig ausgewählte Bürgerinnen eine Einladung aus Reykjavik erhalten. Ihr Auftrag: Ideen und Eckpunkte zu sammeln. Das Resultat mündet in einen 700-seitigen Bericht. Nun soll ein Kondensat dieses Crowdsourcings her.
Wieder sollen Bürger und nicht Politikerinnen anpacken. In der zweiten Runde sind es aber deutlich weniger. 25 Bürger kommen im Verfassungsrat, dem Stjórnlagaráð[7], zusammen. Hunderte kandidieren für den Rat. «Es war absolut ‹in›, sich für den Verfassungsrat zu bewerben», erinnert sich Smári McCarthy. Und jede kannte jeden Kandidaten über drei bis vier Ecken.
Mit schrägen Kampagnen erklären die Kandidatinnen, weshalb ausgerechnet sie für dieses staatspolitische Amt am besten geeignet seien.
Kaum gewählt, wagt der Rat bereits das nächste netzpolitische Experiment. Er überträgt seine Sitzungen live auf Youtube. Jeder Baustein des Entwurfs[8] kann kommentiert werden, wiederum natürlich im Internet. Stolz erklärt[9] das Stjórnlagaráð-Ratsmitglied Thorvaldur Gylfason: «Die ganze Öffentlichkeit kann live zuschauen, wie die neue Verfassung entsteht.»
Ein derartiges Crowdsourcing-Experiment in Sachen Demokratie hat die Welt zuvor noch nie gesehen. Medien wie der «Guardian»[10], die «New York Times»[11] und die «Süddeutsche»[12] berichten über die digitalen Wikinger.
Im Oktober 2012 ist es dann so weit. Das Volk entscheidet, per Referendum, über den Vorschlag des Verfassungsrats. Über 70 Prozent nehmen den Entwurf an. Der Urnengang hat zwar nur Umfragecharakter (mehr lässt nämlich der alte Dänemark-Klon gar nicht zu), aber bietet Stoff für Streit. Denn beim Referendum steht nicht nur der Entwurf des Verfassungsrats zur Debatte, sondern eine ganze Reihe weiterer Fragen[13]. Heikle Fragen. Machtfragen.
Sprengsatz für die Fischerei-Lobby
Plötzlich droht der Prozess zu entgleisen. Nicht wegen der potenziellen Entmachtung der Legislative, etwa die Referendumsfrage, an der sich die Parteien und Politikerinnen aufreiben. Nicht wegen der Venedig-Kommission des Europarats, die kurz vor den nächsten Parlamentswahlen den Verfassungsentwurf kritisiert, weil er «mangelnde inhaltliche Kohärenz» aufweise. Nicht wegen der Verfassungsrechtler[14], die die mangelnde juristische Fachkenntnis der gewählten Bürgerinnen kritisierten.
Der Prozess kommt ins Schleudern, als die Wirtschaftslobby aufzubegehren beginnt. Und sie tut das wegen dieser Referendumsfrage:
«Sollen die natürlichen Ressourcen den Bürgerinnen und Bürgern Islands gehören?»
Jedem Isländer ist klar, was damit gemeint ist: Der Fischerei-Markt soll liberalisiert und demokratisiert werden. Die Fischerei macht 25 Prozent des Bruttosozialprodukts Islands aus. Ihre Lobby hat in enger Verbandelung mit der konservativen Unabhängigkeitspartei über Jahrzehnte ihre Pfründen abgesichert.
Mit einem Inkrafttreten des neuen Regelwerks wären diese Privilegien verloren. Denn die neue Verfassung sieht auch eine angemessene Besteuerung der Fischerei-Unternehmen vor.
Die monatelange Obstruktionspolitik der Konservativen beginnt. Die Unabhängigkeitspartei beginnt, den Verfassungsprozess zu sabotieren.
Der Held hat den Untoten Glámur nicht vollends besiegt. Der ist wieder zurück und lässt seine Muskeln spielen.
Zermürbungstaktiken brechen den Willen
Smári McCarthy spricht von «Filibustering». Er meint damit das Hinhalten, Schlechtreden und Stimmungmachen gegen die «linke» Verfassung durch die Unabhängigkeitspartei. Meist agiert sie hinter vorgehaltener Hand. Es gibt nur wenige sichtbare Exponentinnen der Opposition gegen die Verfassung.
Nur vereinzelte konservative Politiker wie Birgir Ármannsson treten in der Öffentlichkeit dagegen auf. Er nennt die Abstimmung eine «teure Meinungsumfrage».[15]
Der Untote Glámur ist geschickt. Er intrigierte in verschiedenen Gewändern und Gestalten gegen den Helden.
Zwar haben die Konservativen die Exekutive eingebüsst. Aber anderswo sind sie noch an der Macht. Sie stellten die meisten Richterinnen am Obersten Gericht. Und dieses verneint schliesslich die Legitimität des ganzen Verfassungsreferendums, teilweise aufgrund absurder Argumente.
So sagen die Richter etwa, dass der Abstimmungszettel nicht richtig gefaltet gewesen und damit das Stimmgeheimnis nicht gewahrt gewesen sei. Die Demokratie-Aktivistinnen rund um den Piraten McCarthy haben Dutzende von Erklärungen und auch Verschwörungstheorien parat, weshalb das Gericht das Referendum als ungültig erklärte.
Dann folgt die Nacht, die bis heute bei Journalisten, Politologinnen und Politikern Rätsel aufwirft. Am Gründonnerstag[16], dem 28. März 2013, erhält das Verfassungsprojekt den Todesstoss. Einen Monat vor den Parlamentswahlen.
Sabotage des Verfassungsprozesses
Es ist 2 Uhr nachts, an diesem schicksalhaften 28. März. Ein Sitzungszimmer im Althing, dem isländischen Parlament, am Kirkjutorg in Reykjavik. Traktandum: Ratifizierung der Verfassung. Stundenlang haben Sozialdemokratinnen, Konservative, Grüne, Progressive und Unabhängige über das Schicksal des mehrjährige Bürgerwerks verhandelt. Und befinden sich in einer Pattsituation. Das Resultat: Der Verfassungsentwurf wird weder angenommen noch abgelehnt.
Stattdessen haben 25 gegen 23 Stimmen entschieden, den gesamten Verfassungsprozess komplett umzukrempeln. 36 Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Oder sind einfach nach Hause gegangen.
Der Verfassungsvorschlag muss neuerdings eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments erringen – vor und nach den Wahlen. Ausserdem soll in einem neuen Referendum abgestimmt werden. Mit einem hohen Quorum. Mindestens 40 Prozent aller Isländer müssten ein Ja einlegen.
Mit diesen neuen Hürden ist der Entwurf de facto tot. Gestandene Sozialdemokratinnen wie Valgerður Bjarnadóttir äussern sich später entsetzt[17] über das Einknicken ihrer eigenen Regierung. Und die bekannte Piratin Birgitta Jónsdóttir zeigt in einem langen Blogartikel offen ihre Wut über die Mutlosigkeit des Parlamentes.
Weshalb die Premierministerin Jóhanna Sigurðardóttir ihr eigenes Projekt torpedieren liess, ist für die unterstützenden Piraten bis heute nicht nachvollziehbar. Ihre Vermutung: Sigurðardóttir hatte von der Zermürbungstaktik der Bürgerlichen die Schnauze voll. Ihre Kräfte waren aufgebraucht, sie kümmerte sich nur noch um die Aufräumarbeiten. Einen Monat nach der Sitzungsnacht standen die nächsten Wahlen an. Und Sigurðardóttir wusste bereits, dass sie verlieren würde.
Glámur