Sie senden den Wandel. Viviana UrionaЧитать онлайн книгу.
Unterschiede zu den europäischen »Privatsendern« einerseits und zu den europäischen »Freien Radios« andererseits.
Erstens ist der »Privatbesitz« an einem Community-Radio ein gemeinschaftliches, egalitäres Eigentum einer relativ großen Gruppe von Menschen, die durch den Gebrauch des Eigentums keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgen.3 Dies unterscheidet Community-Radios von typischen privaten Sendern. Zweitens sind die betreibenden Gruppen hierarchiearm organisiert, was sie von typischen privaten Sendern ebenso unterscheidet wie von vielen europäischen Freien Radios. Drittens beziehen die Stationen die lokale Bevölkerung in die Gestaltung des Programms und in die Entwicklung der Stationen aktiv ein, was beim europäischen »Freien Radio« allenfalls eine Zielstellung sein mag, die jedoch bislang meist ohne nennenswerten Erfolg blieb. Viertens erreichen Community-Radios – anders als die europäischen Freien Radios – eine enorme Zahl von Hörer*innen und sind wesentliche Akteure bei der politischen Ideenfindung und Willensbildung.
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit diesen argentinischen Community-Radios und untersucht sie und die sie tragende(n) Bewegung(en) als gegenhegemoniales Projekt, als ein gegen den Mainstream der Massenmedien gerichteten dauerhaften (und erfolgreichen) Versuch, (Gegen)Meinungen zu bilden, Gegen(Informationen) zu verbreiten und so zu einer (postkapitalistischen) gesellschaftlichen Transformation beizutragen. Die Untersuchung hat ein Motiv. Dieses besteht in dem Versuch zu der Debatte über »Bürger*innen-Medien« in Deutschland und Europa beizutragen, die bislang nicht zu klären vermochte, warum es hier nie gelang, zu einer massenwirksamen »Berichterstattung von unten« zu kommen.
Es lässt sich annehmen, dass es hierzulande die unzureichende materielle Ausstattung von Bürgermedien ist, ihre Benachteiligung bei der Vergabe von Frequenzen oder ihre mangelnde »Professionalität«, die ihre Wirksamkeit behindert. Und tatsächlich wird diese Studie zeigen, dass die argentinischen Community-Radios im Vergleich besser ausgestattet sind, bei der Frequenzvergabe bessere Rechte haben und den »Professionellen« in Staats- und Privatfunk nicht nachstehen. Dennoch ist diese Besserstellung nicht allein die Ursache der sozialen Wirksamkeit der argentinischen Community-Radios, sondern sie ist zugleich die Folge der sozialen Funktion dieser Radios, ihrer inneren Struktur und ihrer Verankerung in der Bevölkerung – und zwar von ihrem Beginn an und unter wesentlich schlechteren Bedingungen als heute. Diese Studie wird daher auch zeigen, dass es ursächlich das Selbstverständnis der argentinischen Community-Radios als Gesellschaftsveränderer ist, das ihnen in der Folge eine enorme Bedeutung im Medienspektrum verschafft hat.
Dieser Blick auf Ursachen und Folgen kann zudem völlig von dem konkreten untersuchten Medientyp unabhängig erfolgen. Die innere Struktur eines Medienbetriebes und der Grad seiner Verankerung in der Bevölkerung lassen sich ebenso gut für Fernsehstationen, Zeitungen oder Onlineangebote untersuchen.
Der Erfolg der argentinischen Community-Radios ist auch nicht radiotypisch zu erklären, also etwa über die Annahme, das Medium Radio eigne sich besonders gut für eine gesellschaftsverändernde Praxis oder garantiere sie sogar. Träfe dies zu, müssten europäische Stationen ähnlich erfolgreich sein. Die Radiowellen, Antennen, Sender und Empfangsgeräte in Argentinien unterscheiden sich aber technisch nicht von denen an anderen Orten der Welt. Nicht die Betrachtung des äußeren Aufbaus des Mediums trägt zur Analyse bei, sondern die Untersuchung des konkreten Gebrauchs des Mediums, mithin der innere Aufbau.
Der Erfolg der Stationen ist abstrakt betrachtet zunächst ein medientypischer Erfolg, dessen Analyse zu Erkenntnissen für das »Medienmachen« führt, die übertragbar sind auf alle anderen Formen von Medien. Diese übertragbaren Ursachen des Erfolges der argentinischen Community-Radios lauten überblicksartig: Selbstorganisation, eigene Produktionsmittel, hierarchiefreier Aufbau, Empowerment, Streben nach Aufhebung des Sender-Empfänger-Prinzips, Verwurzelung in der Community.
Auf all diese Bereiche wird diese Studie ausführlich eingehen. Sie stützt sich dazu auf Interviewanalysen nach der Grounded Theory und auf eine Vielzahl gesellschaftstheoretischer (poder popular), philosophischer (marxistischer), juristischer, historischer und medientheoretischer Überlegungen, die sie zum Verständnis des Datenmaterials heranzieht.
2. Angewandte Methode (Grounded Theory)
Der vorliegenden Untersuchung liegt die Methode der Grounded Theory zugrunde. Dies ist ein vor allem in der Sozialwissenschaft verwendeter Ansatz zur Auswertung qualitativer Daten, wie sie etwa bei der Interviewführung gewonnen werden, mit dem Ziel der Gewinnung von Theorien zum Forschungsgegenstand. In der englischen Sprache wird das Wort »Theory« sowohl im Sinne von »Methode« als auch im Sinne von »Theorie« verwendet. Nach deutscher Lesart ist die Grounded Theory selbst noch keine Theorie, sondern eine Methode zur Generierung von Theorien4. Sie ist überdies keine einheitliche Methode. Verschiedene Wissenschaftler*innen, die zur oder mit der Grounded Theory arbeiten, haben unterschiedliche Auffassungen zum Gehalt der Methode, die zum Teil zurückgehen auf die von den Urhebern Glaser und Strauss5 untereinander eröffnete Diskussion zum Verständnis der von ihnen vorgelegten Methode.
Allen diesen verschiedenen Ansätzen ist aber auch ein spezifisches Erkenntnisinteresse gemeinsam, auf das es mir für meine Forschungen entscheidend ankommt: Anstatt die im Datenmaterial erfassten subjektiven Sichtweisen zu rekonstruieren, kommt es darauf an, die sozialen (und m.E. auch materiellen) Phänomene herauszuarbeiten, die diesen Sichtweisen (ursächlich bzw. motivierend) zugrunde liegen.
2.1. Die Wahl der Methode
Während meiner universitäts-wissenschaftlichen Zeit habe ich bereits als Studentin, aber auch als Mitarbeiterin unterschiedlicher Lehrstühle jahrelange Erfahrungen mit unterschiedlichen Forschungsmethoden, sowohl quantitativer als auch qualitativer Forschungsdesigns, gesammelt. Diese Erfahrungen, die aus der Anfertigung kleiner, mittlerer und größerer Untersuchungsarbeiten sowie der Tätigkeit als Dozentin für diverse universitäre Seminare entstammten, ermöglichten mir, bereits im Frühstadium meines Forschungsvorhabens zu den Radiostationen (Exposé) eine genaue Vorstellung zu entwickeln, welche Methode genutzt werden sollte: die Grounded Theory.
Diese Methode ermöglichte es mir, für mein Forschungsdesign das Forschungsfeld der Radios mittels leitfadengestützter Interviews angemessen zu erheben und ganz nach (u.a.) Charmaz (1996) aus Versionen von Realität einen konsistenten Kern herausarbeiten zu können, als eine Version von Realität, d.h. als eine mögliche (wahre) Darstellung von Geschehnissen, denen eine (materielle) Ursächlichkeit zugrunde liegt. Die Entscheidung für eine bestimmte Forschungs- und Auswertungsmethode ist im Sinne von Schirmer (2009) das Ergebnis einer Kompromissfindung seitens der Forschenden. Sogleich erläutern werde ich, warum ich die so genannte Aktionsforschung als Methode weniger tauglich fand und daher auch nicht verwandte.
Das Erscheinen der ersten Publikationen6 zur Grounded Theory von Glaser und Strauss legte Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts einen neuen Grundstein in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, der zahlreich adaptiert und verbreitet worden ist. (Lampert, C. 2005: 516-517) Relativ neu war dabei zum einen der Ansatz, nicht etwa (bestehende) Theorien anhand eines geschlossenen Datenmaterials aufzustellen oder zu überprüfen, sondern neue Theorien durch zyklische Datenerhebung aufzufinden, wobei die Theorien gleichsam im Datenmaterial »schliefen«.7 Zum anderen förderte m.E. die dem Ansatz inne liegende Logik eines abduktiven Schließens die Realitätsnähe bzw. Praxisnähe der Forschenden, weil sie diese in einen Kreislauf zwang, bei dem sie ihre aus den Hypothesen gefundenen Vorannahmen immer wieder faktisch überprüfen mussten und ihre Hypothesen entlang des Faktischen ggf. neu aufstellen, wenn die Überprüfung der aus ihnen abgeleiteten Vorannahmen zu keiner Bestätigung führte.