Sie senden den Wandel. Viviana UrionaЧитать онлайн книгу.
z.B. die theoretische Physik aufforderte, von der Tafel und vom Simulationscomputer einen Schritt zurückzugehen und die Messinstrumente neu aufzubauen. Im Bereich der Sozialwissenschaft ist die Methode ein Ausfluss des Symbolischen Interaktionismus.
Wenn wir uns die Methode Grounded Theory als einen Werkzeugkasten mit verschiedenen Werkzeugen vorstellen (sowie Anleitungen zu deren Gebrauch), so enthielte der Kasten in etwa das Folgende:
Die Erhebung eigenen Datenmaterials (hier Interviews) zur Interpolation der in ihm auffindbaren Realitätsgehalte zum Zwecke der Theorienbildung im Wege komparativer Analyse und permanenten Vergleichs (dazu sogleich) (Strübing, J. 2004: 13ff.)
die Möglichkeit und sogar die Pflicht der Forschenden, sich selbst zu verorten8
die Betrachtung und Thematisierung der äußeren Rahmenbedingen des Forschungsgegenstandes
Die Heranziehung externer Materialien zur Theoriebildung (und Überprüfung)9
Insbesondere auf die Erfordernisse der komparativen Analyse und die Methode des permanenten Vergleichs möchte ich bereits hier näher eingehen.
2.1.1 Komparative Analyse
Glaser und Strauss empfahlen eine Vorgehensweise, die stark an die Idee der abduktiven Logik von Charles Sanders Peirce (1839–1914) angelehnt ist, ohne dies zu benennen und vielleicht sogar, ohne sich dessen bewusst zu sein. (Reichertz J. 2011: 208) Die Forschenden mögen sich zur Theoriebildung in einen zyklischen Kreislauf aus Erhebung von Daten, Analyse von Daten und Auswertung von Daten begeben. (Strübing, J. 2014: 15f)
So bin auch ich verfahren. Die für diese Arbeit geführten Interviews mit den Radiomacher*innen entstanden entlang einer sich stetig verfeinernden Theoriebildung zu den ideellen und materiellen Ursachen des Erfolges der Radios. Zugleich entwickelte ich die Theorie und deren Hypothesen entlang des in den Interviews aufgefundenen Datenmaterials durch Falsifikation oder Verifikation nach dessen Transkription und Kodierung.
Ich änderte dabei allerdings nicht die Struktur der leitfadengestützten Interviews, weil ich davon ausgehen durfte, dass mir die Interviewführung selbst genug Raum gab, um neu auftauchende Codes, Kategorien und Theorieansätze zu überprüfen.
2.1.2 Kodieren nach der Methode des permanenten Vergleichs
Mein Sampling umfasste 20 Interviews mit Radiomenschen aus urbanen und ruralen Zusammenhängen sowie ca. 24 weitere Interviews, die ausschließlich im ruralen Raum geführt wurden10, um einen maximalen Kontrast in der Datenerhebung hervorzurufen. Die Kodierung der Interviews erfolgte iterativ entlang der Führung neuer Interviews. Der stetig anwachsende Datensatz wurde zunächst einer offenen Kodierung unterzogen, um sich wiederholende bzw. wiederkehrende Phrasen (oder Wörter) zu identifizieren. Anhand von Kernvariablen (Verhaltensmuster) der interviewten Personen bildete ich dann Kategorien. Dabei wurden die Wertigkeit des Codes, die Relevanz der Kernvariablen und die Tauglichkeit der Kategorien durch fortlaufendes Erheben und Kodieren neuer Daten jeweils hinterfragt. Kategorien, die eher Bestand behielten, dienten bei der Codierung neuer Daten als jeweils maßgeblicher (selektive Kodierung). Die sich verstärkenden Kategorien dienten der Theoriebildung (unter Berücksichtigung der hinter ihnen stehenden Kernvariablen und unter Heranziehung philosophischer, sozialwissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Grundannahmen).
2.1.3 Interviewführung und Wahl der Interviewpartner*innen
Für die Durchführung der Interviews bediente ich mich der Haltung der ethnografischen Interviewerin. (Spradley, J. 197911) Damit war gewährleistet, dass die Bedeutung des »Fremden«, des von »außen Kommens« gewahrt blieb, obwohl ich sowohl eine argentinische Herkunft als auch einen Radiohintergrund habe.12 Selbstverständlich kann mein subjektives Vorverständnis aber nicht völlig ausgeblendet werden. Es hatte sicher Einfluss auf die Entscheidungen zu spezifischen Nachfragen oder Vertiefungen. Die interviewten Personen sind als »Teil des Handlungsfeldes« ganz im Sinne von Meuser und Nagel zu verstehen. (Meuser, M; Nagel, U. 2005: 73)13
2.1.4 Gütekriterien und kritische Haltung zur Methode
Schließlich sah ich mich bei der Forschung zu dieser Arbeit an grundsätzliche Parameter (Gütekriterien) gebunden, deren Wichtigkeit oft im Zusammenhang mit der Grounded Theory betont werden. Diese sind:
die Pflicht zur Auswahl und zum Erfassen des Untersuchungsgegenstands in der bestmöglichen Art und Weise,
die Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses, indem dieser transparent und intersubjektiv vorgelegt wird,
und schließlich das Ermöglichen der Nachvollziehbarkeit der Reflexion sowohl dieses Forschungsprozesses als auch seiner Ergebnisse. (Strauss, A. und Corbin, J. 1996: 214f.; Lampert, C. 2005: 522)
Darüber hinaus waren die Texte von Strübing (u.a. 2006) und Hildebrand (u.a. 2004) für mich aufschlussreich, um die Entwicklung und Auseinandersetzung der zwei Richtungen der Grounded Theory zu durchdringen14 und eine kritische Auseinandersetzung mit der Methode zu finden. Denn die Grounded Theory ist nicht nur eine Methode zur Generierung von Theorien. Sie ist eben auch eine Methode zur Hinterfragung von Methoden und das schließt sie selbst ein.
Ich finde es schwer vorstellbar, dass im Datenmaterial selbst bereits Erkenntnisse »schlummern«, die dort sozusagen objektiv bestehen und von jedem Forschenden gleichermaßen nur aufgefunden werden müssen, solange die Methode beachtet wird. Ich denke, im Datenmaterial schlummern vielmehr solche Erkenntnisse, die nach den ideellen Maßstäben, der sozialen Verortung, der Klassenzugehörigkeit und der Vorbildung des Suchenden dort spezifisch erkennbar werden. In diesem Punkt folge ich eher Strauss, der die Haltung vertrat, dass theoretisches Vorwissen in die Analyse der Daten notwendig einfließen müsse, wobei ich anmerken möchte, dass bereits das theoretische Vorwissen nicht allein gleichsam in der Summe des Gelesenen und Behaltenen besteht, sondern immer zugleich das »für richtig« und »für relevant« Gehaltene beinhaltet, das wiederum ohne Hinzuziehung der sozial-ökonomischen Verortung des Forschenden nicht sinnvoll bestimmt werden kann.
Ähnlich Strauss gemeinsam mit Corbin:
»Theory is not the formulation of some discovered aspect of a pre-existing reality ›out there‹ [...] Theories are interpretations made from perspectives as adopted or researched by researchers« (Strauss, A. und Corbin, J. 1994: 279)
Dazu schreibt Strübing aufschlussreich:
»Aus Daten allein ›emergiert‹ gar nichts, erst recht keine Konzepte. Zwar rekonstruiert der Kodierprozess in der Grounded Theory in der von Strauss und Corbin vertretenen Variante durchaus, doch ist der Prozess kein durchweg logischer, denn er kommt nicht ohne das kreative Zutun der Forschenden aus: Wir ›machen‹ Sinn aus den Daten, sie sprechen nicht zu uns. Auch wenn wir den Sinn der Interaktionen von Handelnden zu rekonstruieren versuchen, so ist der dabei zu leistende analytisch-interpretative Prozess doch kein logisch zwingender, sondern ein tentativ-experimenteller. Zwischen Daten und Konzepten liegen mühevolle Explikationen, die Aktivierung von alltags- und wissenschaftlichem Vorwissen und Heuristiken, Abduktionen, riskante, weil probabilistische Schlüsse und die fortgesetzte experimentelle Überprüfung vorläufiger Konzepte (Ad-hoc-Hypothesen) an systematisch ausgewähltem Datenmaterial.« (Strübing, J. 2006: 150)
Während der Analyse der Interviews sprachen die Daten also deutlich zu mir, während