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Die große Zerstörung. Andreas BarthelmessЧитать онлайн книгу.

Die große Zerstörung - Andreas Barthelmess


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      Ende des 19. Jahrhunderts haben sich in Essen die Thyssen-Krupp-Ruhrbarone etabliert, nationale Superreiche, die jetzt dem alten Adel den Rang ablaufen und bis zum Ersten Weltkrieg massiv von der Aufrüstung profitieren. Noch Hitler wünscht sich die Deutschen »hart wie Kruppstahl«. Militarismus und Kolonialismus, man könnte auch sagen: imperialistischer Expansionismus, sind der Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

      Der Erste Weltkrieg, der mit der Niederlage Deutschlands und der Abdankung des Kaisers endet, markiert das Ende des »langen 19. Jahrhunderts«. So hat es der Universalgelehrte Eric Hobsbawm genannt, so haben es nach ihm viele Historiker geschrieben. Jetzt erst sind die großen Übergänge des 19. Jahrhunderts vollendet: der Wandel von regionaler zu nationaler Zugehörigkeit, von vorindustriell-handwerklicher zu industrieller Massenproduktion, von autoritären Monarchien zu demokratischen Verfassungsstaaten.

      Hundert Jahre später, denke ich, wiederholt sich die Geschichte. Denn nicht mit dem Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 endet das 20. Jahrhundert, sondern erst im Jahr 2016. Das ist das Jahr, in dem Putin und Populisten allerorts Facebook kapern, die Briten für »Leave.EU« votieren und Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wird. Ab jetzt gelten die politischen Naturgesetze des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Donnerschlag! Eine neue Zeit ist da. Nur niemand weiß, welche.

      Knapp hundert Jahre zuvor, in der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939, scheint sich die Geschichte der industriellen Beschleunigung und Effizienzsteigerung noch einmal im Zeitraffer zu wiederholen. Henry Fords Einführung des Fließbands macht den Ford »Model T« zum ersten Auto, das sich die obere Mittelklasse leisten kann. Über die zwei Jahrzehnte, in denen der Wagen gebaut wird, sinkt seine Montagezeit von zwölf Stunden auf eine, der Preis von knapp 1000 auf gut 250 Dollar. Der Preis jedoch, den die Fließbandarbeiter dafür entrichten, ist hoch. Ihre Arbeit ist stupide und monoton, immer dieselben wenigen Handgriffe, fremdbestimmt durch die Laufgeschwindigkeit des Fließbandes.

      Schon Marx hatte solche Tätigkeiten als »entfremdete Arbeit« beschrieben. Niemand beherrscht unter diesen Bedingungen noch, ja, niemand überblickt mehr die gesamte Montage eines Autos. Aus Motorenbauern und Karosseriemachern, die stolz auf ihre Arbeit und das von ihnen hergestellte Produkt waren, sind Malocher geworden, die es dem relativ hohen Lohn zum Trotz meist nicht lange bei Ford aushalten. Das liegt auch daran, dass im Unterschied zum traditionellen Handwerk den Arbeitern das von ihnen hergestellte Produkt am Ende nicht gehört. Es erscheint ihnen fremd. Heute würde man sagen, in der »entfremdeten« Arbeit fehlt es am Gefühl der »Selbstwirksamkeit« und damit an einer wichtigen psychologischen Voraussetzung, um mit der eigenen Arbeit zufrieden zu sein und sogar einen Sinn in ihr zu sehen.

      1929 kommt die Weltwirtschaftskrise. Sie verursacht nicht, aber sie beschleunigt den deutschen, italienischen und spanischen Weg in den Faschismus, der gerade einmal ein Vierteljahrhundert nach dem Ersten in den Zweiten Weltkrieg und in die Schoah führt.

      1945 schaffen die Alliierten die erste stabile Befriedung des industriellen Zeitalters. Das gelingt ihnen auch deshalb, weil die europäischen Demokratien den Kapitalismus in Form der sozialen Marktwirtschaft einhegen. Es folgen Jahrzehnte der inkrementellen Innovationen. Kühlschrank und Staubsauger, Kaffeemaschine und Käfer, Nylonstrumpfhose und oberitalienischer Campingplatz werden immer besser und billiger, mehr und mehr Wirtschaftswunderdeutsche können sich solche Annehmlichkeiten leisten. Volksparteien und Gewerkschaften blühen, der Sozialstaat wird ausgebaut.

      Endlich gelingt der Frieden, für den das 19. Jahrhundert, das Deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik noch nicht bereit waren. Zu lange hatten sie gebraucht, um auf die neuen sozialen Fragen zu reagieren, zu schwach waren ihre Antworten gewesen. Zu stark hingegen war vor dem Ersten wie vor dem Zweiten Weltkrieg der Kriegsdruck des militärisch-industriellen Komplexes, zu groß die nationalistische und autoritäre Führer-Sehnsucht in großen Teilen der Bevölkerung. Das haben die Alliierten 1945 korrigiert. So wurden die Exzesse von Kapitalismus, Industrialisierung und Nationalismus fürs Erste gebannt.

      Nach den Weltkriegen beginnt das Zeitalter der Globalisierung im modernen Sinne des 20. Jahrhunderts. Rasant wächst in den 1950er- und 1960er-Jahren der internationale Flugverkehr. Vor allem amerikanische Firmen internationalisieren sich. Heute bekommt man Coca-Cola in allen Ländern mit Ausnahme von Kuba und Nordkorea, und gegen Touristen-Dollar auch dort. 1962 gibt John F. Kennedy die Losung aus, innerhalb eines Jahrzehnts zum Mond zu fliegen. Einer Anekdote zufolge hat Kennedy im selben Jahr bei einem Besuch des NASA Space Center einen Hausmeister mit einem Besen in der Hand gefragt, was er tue. Die Antwort: »Mr President, ich helfe mit, einen Mann zum Mond zu bringen.« Deutlicher lässt sich die erfolgreiche Mobilisierung der amerikanischen Gesellschaft nicht beschreiben. Noch heute spricht man in der Technologiedebatte von »Moonshoot Projects«, wenn ambitionierte technologische Großprojekte gemeint sind, die eine Sogwirkung und Aufbruchsstimmung entfalten sollen. Den Amerikanern ist das in den 1960er-Jahren gelungen. Verrückterweise sind sie schon 1969 auf dem Mond.

      Jetzt ist es so weit: Der technologische Fortschritt geht in die exponentielle Beschleunigung, Stichwort Moore’sches Gesetz. Das führen auch die Kurven der Geschwindigkeit vor Augen, mit der sich der Mensch fortbewegt. Lange Zeit maximal auf die 60 km/h eines galoppierenden Pferdes beschränkt, überbietet die Eisenbahn diese Geschwindigkeit Mitte des 19. Jahrhunderts, Flugzeug und Auto folgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, schon 1941 ist das Flugzeug schneller als 1000 km/h.

      Ist diese Entwicklung disruptiv? Nein. Sie ist inkrementell par excellence. Denn die technischen Innovationen der Nachkriegszeit sind meist Weiterentwicklungen von Vorkriegserfindungen. Bei der NASA (National Aeronautics and Space Administration) und DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) – zwei staatlichen Behörden, wohlgemerkt! – arbeiten Heerscharen von international rekrutierten Wissenschaftlern an der Verbesserung der Kriegsraketentechnik. Das ist ins Gigantische getriebener Inkrementalismus. Auch in Großbritannien, Frankreich und Westdeutschland gibt es halbstaatliche Technologieunternehmen, die technische Höchstleistungen vollbringen, etwa Messerschmitt-Bölkow-Blohm in Ottobrunn bei München. Man forscht zu Drehflüglern und entwickelt die Magnetschwebebahn. Klingt ein bisschen nach dem Zukunftslabor aus einem James-Bond-Film, war aber damals nichts anderes als State of the Art.

      Ebenfalls nicht disruptiv gestalten sich die sozialen Verhältnisse. Der Lebensstandard wächst bei den meisten Amerikanern und Europäern, und selbst den Armen geht es in den Nachkriegsjahren besser als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.

      Gestützt wird der kontinuierliche Fortschritt in der westlichen Welt durch eine keynesianische Nachfragepolitik – auch in den USA, wo man auf diese Weise der kommunistischen Konkurrenz die Show stehlen will. Man bemüht sich um sozialen Ausgleich, geht konsequent gegen Kartelle und Monopolstrukturen vor, zerschlägt oder reguliert sie. Es ist die Hochzeit des starken Staates. In den USA investiert die Regierung nach heutigen Maßstäben hohe dreistellige Milliardenbeträge in die Wettrüstungs- und Raumfahrtindustrie von Los Alamos und Cape Canaveral. In den beiden Nachkriegsjahrzehnten ist die amerikanische Regierung die Speerspitze des technologischen Fortschritts in der westlichen Welt, jenseits des Eisernen Vorhangs ist es die sowjetische.

      In den Siebzigerjahren kommt es mit Einführung des Personal Computing zu einem Bruch. Das ist Disruption, wie sie der bereits erwähnte Clayton M. Christensen 1997 beschrieben hat. Microsoft und Apple sind Garagengründungen von jungen enthusiastischen Tüftlern mit ein paar Hundert Dollar Startkapital. 1943 soll der IBM-Vorstandsvorsitzende Thomas J. Watson von einem Weltmarkt für »vielleicht fünf Computer« gesprochen haben, jetzt rollen Bill Gates und Steve Jobs aus ihren Garagen-Nischen heraus innerhalb weniger Jahre einen Markt für Millionen von Personal Computern aus.

      Die digitale Revolution beginnt. Sie bestimmt heute unsere Gegenwart wie keine andere technologische Entwicklung. Wieder gehen technologischer und ökonomischer – wenn man so will: kapitalistischer – Fortschritt Hand in Hand. Denn bei der Finanzierung junger Unternehmen auf dem entstehenden Personal-Computing-Markt spielt erstmals privates Wagniskapital, englisch »venture capital«, eine zentrale Rolle.

      Das Prinzip des Venturecapital, ursprünglich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Umkreis der Harvard University aufgekommen, besteht darin, dass ein Wagniskapitalfonds Firmenanteile an mehreren innovativen, aber auch spekulativen,


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