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Die große Zerstörung. Andreas BarthelmessЧитать онлайн книгу.

Die große Zerstörung - Andreas Barthelmess


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Streuung auf viele Unternehmen kompensiert. So geschieht es in den Siebzigerjahren im Umkreis der Stanford University. Das Silicon Valley heutiger Prägung entsteht.

      Zugleich erlebt wirtschaftspolitisch die sogenannte Chicagoer Schule eine Renaissance. Jetzt geben statt John Maynard Keynes die Lehren von Friedrich Hayek und Milton Friedman den Ton an. Die Regierung setzt nicht mehr auf Nachfrage-, sondern auf Angebotspolitik. Neoliberales Denken, wie es zuletzt vor der Wirtschaftskrise 1928/29 populär war, wird wieder Mainstream. In den USA beginnen die Reaganomics, in Großbritannien der Thatcherismus. Es kommt zum Börsenboom der Achtzigerjahre.

      Wieder zeigt sich, wie eng Technologie und Marktgeschehen verflochten sind. Denn es sind die neuen Informationstechnologien – Computer-Trading, Chartanalysen, automatische Stop-Kurse –, die jetzt das Wachstum an der Börse befeuern. 1981 legt Michael Bloomberg mit dem »Bloomberg Terminal«, einem bis heute an den Börsen genutzten Datenmonitor, den Grundstein zu seinem Milliardenvermögen.

      In den Siebziger- und Achtzigerjahren beschleunigt der Computerhandel die Globalisierung der Finanzmärkte. Steuersenkungen und Deregulierung scheinen sich auszuzahlen, zumindest die Börse brummt. Das geht so bis zum 19. Oktober 1987. An diesem sogenannten Schwarzen Montag kommt es zum ersten IT-Börsencrash überhaupt. Innerhalb weniger Stunden wächst er sich zum größten Crash seit Ende des Krieges aus, 500 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung lösen sich in Luft auf.

      Niemand verkörpert den Geist der Börsenboom-Jahre so perfekt wie der von Michael Douglas gespielte Gordon Gekko im Film Wall Street. Haare zurückgegelt, mit Hosenträgern und weißem Kragen, predigt er »Gier ist gut«. Sozialdarwinismus ist auf einmal sexy und der Finanzmarkt so cool wie heute »Tech«. Man glaubt an Markt, Technologie und Shareholder Value, und schon steigen die Kurse.

      Anfang der Achtziger wird der Begriff »Globalisierung« populär. Eine zentrale Rolle spielt er in John Naisbitts Buch Megatrends, Theodore Levitts Globalization of Markets hebt ihn sogar in den Titel. Mit dem damals noch typischen Zeitverzug von ein paar Jahren erreicht der Begriff Europa. Ein Jahrzehnt später ist er fester Bestandteil des politischen Vokabulars und flankiert weltweit Freihandelbestrebungen.

      In Europa wird Ende der Achtzigerjahre der EU-Binnenmarkt erdacht und Anfang der Neunzigerjahre eingeführt. Bis heute ist er auf die Industrie ausgelegt, aber nicht auf Dienstleistung und IT. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA kommt 1994, ein Jahr darauf die World Trade Organization WTO. Nicht zufällig ist Freihandel die Losung des Jahrzehnts, das Ende des Kalten Kriegs verbucht man symbolisch als Sieg des Kapitalismus. Die Gleichung lautet: Kapitalismus plus Freiheit ist Freihandel. Capitalism rules, da interessieren die rules of capitalism nicht so sehr. In den Neunzigerjahren und auch noch im Jahrzehnt darauf erreicht die Weltwirtschaft Osteuropa und die Schwellenländer, vor allem in Asien. Die ganze Welt glaubt jetzt an das Dogma von freien Märkten, freiem Handel und Wohlstand für alle. Doch selbst wenn es ökonomisch richtig erscheint, kann man kulturell und ökologisch daran zweifeln. Die Welt ist kein Pareto-optimiertes Modell, das heißt ein ökonomisches Modell, in dem alle profitieren. Doch das fällt den meisten nicht auf. Im Enthusiasmus nach dem Ende des Kalten Kriegs fehlt dem Kapitalismus ganz einfach ein Regulativ.

      Das wird in der Finanzkrise von 2008 klar, als es zum Meltdown kommt. Großbanken gehen pleite, große Versicherungen straucheln, der Staat springt ein. Wenngleich kurzfristig effektiv, kommt die staatliche Bankenrettung mittelfristig nicht gut an. Denn der Einsatz von Steuergeld gilt »systemrelevanten« Finanzunternehmen, und so entsteht der Eindruck, dass der Staat erpressbar sei. Die systemrelevanten Unternehmen privatisieren ihre Hochrisiko-Gewinne, die Verluste und Totalausfälle hingegen werden vom Steuerzahler aufgefangen.

      So verlieren die Menschen ihr Vertrauen in das, was heute immer öfter misstrauisch, ja verschwörerisch, als »das System« bezeichnet wird. Die aus der US-Finanzkrise folgende Eurokrise, die sich über die nächsten Jahre hinzieht – Stichwort Griechenland –, blockiert eine nach vorne gerichtete Agenda Europas. Die politische Vertrauenskrise verschärft sich, bis sie dann 2016 mit dem Referendum der Briten und der Wahlentscheidung der US-Amerikaner die Verhältnisse grundlegend verändert.

      Während ich in den Neunzigerjahren noch in meinem Betongymnasium sitze, zeichnen sich ökonomisch drei Trends ab: Ausweitung des Freihandels, Aufstieg der Informationstechnologie – Mobilfunk, Internet und beginnender E-Commerce beschleunigen Kommunikation und Handel – sowie konsequentes Outsourcing. Mitte der Achtziger war bereits das erste große Leder- und Textil-Outsourcing von Deutschland an die Ränder der EU erfolgt, insbesondere in die neuen Mitgliedsstaaten Portugal und Spanien. Zehn Jahre später geht es global weiter in Richtung Bangladesch oder Vietnam, die europäische Peripherie ist zu teuer geworden.

      In Europa schrumpfen die Distanzen immer weiter, insbesondere der Bezugsrahmen für junge Leute wird größer. In den Nullerjahren etabliert sich die »Generation Easyjet«. Billigflieger machen Fliegen endgültig zur Commodity. Studierende besuchen sich übers Wochenende gegenseitig an ihren Erasmus-Studienorten, kostet ja weniger als eine Bahnfahrt nach Hause und bringt viel mehr Spaß. Zur selben Zeit redet man von der »Generation Praktikum«, die sich mit Elternunterstützung durch die katastrophal schlecht bezahlten ersten Berufsjahre volontiert. Das ist kein Zufall. Denn Easyjet und Dauerpraktikum sind zwei Seiten ein und derselben Medaille: nämlich der Globalisierung.

      So sieht es jetzt aus: Die Globalisierung hebt ihr Haupt und wendet uns auf einmal eine Fratze zu. Der Lohndruck wächst, die Lohnstückkosten sind zu hoch, Sozialabgaben und Lohnnebenkosten auch, denn man steht weltweit im Wettbewerb. Europäische Länder mit Sozialstaatstradition sehen sich zu schmerzhaften Reformen gezwungen, um im schärferen globalen Wettbewerb mitzuhalten. In Deutschland stellt die Agenda 2010 die regierende SPD vor eine Zerreißprobe. Reagan und Thatcher hingegen, unbeschwert von Sozialstaatstraditionen, hatten ihre Reformen schon Anfang der Achtzigerjahre erledigt.

      Die Globalisierung bringt es mit sich, dass die Politik immer stärker den Marktregeln folgt und damit den Primat des Politischen aus der Hand gibt. Es kommt, auch in der EU, zu einem ruinösen Steuerunterbietungswettbewerb. Firmen erpressen Staaten, und die spielen mit, so etwa Irland und Luxemburg bei ihrem Werben um die »GAFA«-Unternehmen Google, Apple, Facebook und Amazon. Ist das Kapital erst einmal global unterwegs, kann es sich aussuchen, wo es sich kurzfristig niederlässt.

      Dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump kann man vieles vorwerfen. Er agiert erratisch und demokratiefeindlich. Und doch hat keine politische Führungsfigur des Westens in den letzten Jahren so obsessiv versucht, den Primat des Politischen über die globale Wirtschaft zurückzugewinnen. Gerade als Unternehmer will er der Berufspolitiker-Welt zeigen, wie sich Politik gegenüber globalen Märkten und Unternehmen behaupten kann.

      Am Ende der langen Geschichte vom technischen Fortschritt gibt uns eines zu denken: Fast alle Unternehmen, die heute die Wirtschaft dominieren, sind in den ersten Jahren nach der Öffnung des World Wide Web 1993 entstanden: Amazon 1994, Google 1998, Alibaba 1999 und Facebook 2004. Die ersten drei sind Twens, erst seit ein paar Jahren volljährig, Facebook sogar noch ein Teenager, der sich bis zu seinem 16. Geburtstag im Juli 2020 in den USA nicht einmal ein Bier und ein paar Zigaretten kaufen dürfte. Vor allem aber sind die Firmen keine Hersteller von Produkten, sie sind Plattformen. Genau umgekehrt liegen die Dinge im deutschen DAX: Alle seine Unternehmen stehen für Produkte, und das Durchschnittsalter der Unternehmen liegt bei knapp 130 Jahren.

      Was wir sehen, ist ein Traditionsbruch. Oder, wie es der Journalist Gabor Steingart am 11. Januar 2020 gegenüber der 240 Jahre alten Neuen Zürcher Zeitung formuliert hat: »Aus der Tradition ergibt sich heute gar nichts. Manchmal ist sie auch nur ein Problem und Erfahrungsschatz ein anderes Wort für Sondermüll.«

      Dieser Traditionsbruch ist Ausdruck der großen Disruption unserer Gegenwart. Dazu kam es durch die technologische Beschleunigung und die Vernetzung von IT und Handel. Die Globalisierung verschaffte dem Kapital die freie Wahl. Als Venturecapital befeuerte es Tech-Start-ups, bald folgten, durch die Selbstverstärkung des Digitalen noch weiter beschleunigt, ihre Börsengänge.

      Was zeichnet unsere disruptive Zeit aus? Das Netz, werden wahrscheinlich die meisten antworten. Sie haben recht. »Online« war der große Durchbruch. Jeder vernetzt sich mit jedem, alles mit allem. Wissensressourcen und Kundenzugänge werden


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