Gehen, um zu bleiben. Klaus MullerЧитать онлайн книгу.
Deshalb intensivierte die SED-Führung die Facharbeiterausbildung. Facharbeiter erschienen den neuen Machthabern braver als die selbstbewussten und unruhigen Studenten. Man brauchte die Arbeiterschaft nur ausreichend zu ernähren, denn bei Hungerrevolten wie am 17. Juni 1953 konnte auch sie ungemütlich werden. Obwohl ich herzlich wenig Interesse für die Maschinenbauerei verspürte, verfüge ich noch heute über fundierte Kenntnisse in Materialkunde, Mechanik, Statik und bin ein exakter Technischer Zeichner.
Als im September 1961 das Abiturvorbereitungsjahr unseres Hochschulbefähigungs-Lehrganges begann, war es mit der Idylle vorbei, die Mauer stand. Uns empfing ein Trio NVA-Offiziere, die, vom Schuldirektor sekundiert, uns eine Verpflichtungserklärung vorlegten. Jedes Wort traf mich wie ein Peitschenhieb: Wir sollten uns bereiterklären, die sozialistische Ordnung in der DDR (die mich vor drei Wochen gerade eingemauert hatte) mit der Waffe in der Hand (und in jener peinlichen Naziuniform der NVA), unter Einsatz des Lebens (mit dessen Genuss ich gerade begann) und im Bündnis mit der schrecklichen Sowjetarmee (die in meinen Augen das Böse schlechthin war) zu verteidigen. Das Schlimmste aber war die Argumentation: Wir, als zukünftige sozialistische Leitungskader, wären verpflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen und den übrigen Jugendlichen als Vorbild zu dienen. Diese Kampagne hieß: „FDJ-Aufgebot“. Die Wehrpflicht in der DDR begann acht Monate später.
Bisher war meine Distanz zum SED-Regime in der DDR eher ästhetischer Art gewesen. Ich kam schließlich aus der Arbeiterschaft, und die SED wollte ja den Arbeitern geben und es den reichen Kapitalisten nehmen. Damit konnte man als jugendlicher Angehöriger der Arbeiterklasse ohne volkswirtschaftliche Bildung durchaus leben, wenn auch alles, was die SED tat, hässlich war. Ihre Reden, ihre Aufmärsche und Kundgebungen, ihre Bauten, ihr persönliches Auftreten und das Schlimmste, ihr Militär. Ein unüberwindlicher Ekel packte mich, ich fand daher sogar den Mut, als Einziger unserer Klasse die Unterschrift unter dieser Erklärung zu verweigern. Diese Verweigerung bewirkte eine brüllende Schimpfkanonade aus dem Munde der Uniformträger gegen mich und meinen Hinauswurf aus dem Abiturkursus durch den Direktor der Abend-Oberschule. Herkunft aus der Arbeiterklasse und gutes theoretisches Wissen hatten als Kriterien für meinen Verbleib in dieser Bildungseinrichtung ausgedient. Die Militarisierung des Lebens in der DDR deutete sich an.
Der Hinauswurf traf mich nicht als eine besonders tiefe Zäsur. Akademiker hatten in der DDR ohnehin nicht mit hohem Einkommen zu rechnen. Mittlerweile hatte ich als Aushilfskellner eine Möglichkeit gefunden, meine Liquidität aufzufrischen, was etwas Freiheit bedeutete. Mein Lehrberuf als Maschinenschlosser war schlecht bezahlt und bot keine Möglichkeit, ein Zubrot zu verdienen, so dass ich ihn aufgab. Die Kellnerei hatte auch den Vorteil, dass ich mit vielen anderen verhinderten Akademikern und auch mit Studenten in Kontakt kam. Aber auch wirkliche Akademiker entzogen sich nicht dem Umgang mit einem forschen jungen Mann, der gepflegte Umgangsformen, einiges Wissen und immer die Taschen voller Bargeld hatte. Ähnlich wie Alexej Maximowitsch Peschkow, der unter seinem Kampfnamen „Der Bittere“ (russisch: „Gorki“) zu Weltruhm gelangte, nenne ich diese meine Zeit in Dresden und später in Rostock „meine Universitäten“.
Verschiedene Verbindungen da und dort bescherten Glücksansätze von Liebe und Familienleben, denn einige meiner Geliebten hatten eigene Kinder. Die Beziehungen führten aber nie zu einer standesamtlichen Bindung; es blieb immer nur bei dem, was das schöne, französische Wort „Liaison“ nennt oder der katholische Klerus mit dem Schmähwort „Konkubinat“ bedenkt. Meine Ablehnung von administrativen Bindungen blieb auch dann noch, als ich Penelope kennenlernte, mit der ich, im oben angedeuteten Verhältnis, noch heute zusammenlebe.
Sinnlich und materiell konnte ich mich nun nicht mehr beklagen – sommers an der Ostseeküste einträgliche Saisontätigkeit bewältigend und die übrige Zeit des Jahres unterwegs, zum Lebensgenuss und der Libido des Lernens nachgehend. Schließlich war mir ein geisteswissenschaftliches Studium verwehrt worden, aber ich legte dennoch großen Wert auf Bildung. So nebenbei wurde ich in Dresden zu einem erfolgreichen Antiquitätensammler, -händler und auch -restaurator, der das im Sommer gescheffelte Geld nicht zur Gänze verjubeln musste oder wollte, sondern langfristig sichern konnte.
Im Urlaub war ich natürlich oft in unseren östlichen Nachbarländern unterwegs. Das war immerhin ein Hauch von Freiheit, wenn man auch, speziell in Polen, noch eine tiefe Abneigung gegen Deutsche verspürte. Diese Abneigung gegen uns Deutsche gab es, wie ich mich damals wieder anhand der Berichte und Erzählungen älterer Menschen erinnerte, in Italien nicht. Immerhin hatten ja die Italiener Hitlers Eroberungskrieg viele Jahre klaglos mitgemacht und müssten nun, nach meiner Vorstellung, unter den gleichen Schuldgefühlen leiden wie wir und würden uns, die Hauptschuldigen am Kriege von der Nordseite der Alpen her, womöglich mit Milde und Freundschaft behandeln.
Damals kannte ich auch schon Seumes Buch „Mein Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ aus der Schule. Bei Klassenwanderungen zum Großen Winterberg zeigten uns die Lehrer Seumes Weg durch Böhmen nach Italien. In meinen nächtlichen Glücksträumen bin ich dann auf der Suche nach dem Weg nach Italien zwischen den böhmischen Kegelbergen umhergeirrt.
Mitten in meinem lockeren Lebenswandel war ich dann plötzlich 40, nun war „Schluss mit lustig“ – es hatte etwas Bedeutendes zu geschehen. Eine Italienreise war das absolute „Muss“ eines deutschen Bildungsbürgers. So sah ich das jedenfalls damals. Am besten erschien es mir natürlich, diese Reise auf den Spuren Johann Gottfried Seumes bis hinunter nach Syrakus zu unternehmen. Nach 40 Jahren Spießbürgerlebens begann ich endlich mit praktischen Schritten zu meiner Selbstbefreiung. Und doch hatte ich bei allem Reisefieber Angst nicht wieder hereingelassen zu werden. Schließlich liebte ich inzwischen dieses Land, nicht den Staat. Sachsen mit seiner langsam verrottenden Pracht, Berlin und die Mark, wo noch immer der Hugenottengeist waberte, und Mecklenburg, wo sogar noch im Winter die Atemluft erträglich war. Und Penelope band mich an dieses Land.
Das Seebäderschiff
Ich musste also unbedingt meinen „goldenen Käfig“ einmal von außen sehen. Doch die existenzielle Frage stand im Raum – wie wieder rein?!
Der Gedanke lag nahe, mit einem spektakulären Grenzdurchbruch und der publizistischen Zurückhaltung im Westen nach dem Erfolg Druck auf das SED-Regime auszuüben und so diskret wieder in die DDR einzureisen. Der Plan der Wiedereinreise lag so auf der Hand, wie nun aber raus?
Das Strafgesetzbuch der DDR bedrohte Grenzverletzer im schweren Fall (§ 213 [2. Absatz] Ungesetzlicher Grenzübertritt) mit fünf Jahren Freiheitsstrafe. Schwerer Fall lag vor, wenn:
„1. Die Tat durch Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder Mitführung geeigneter Werkzeuge oder Geräte oder Mitführen von Waffen oder durch die Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden durchgeführt wird. 2. Die Tat durch Mißbrauch oder Fälschung von Ausweisen oder Grenzübertretungsdokumenten, durch Anwendung falscher derartiger Dokumente oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt.
3. Die Tat von einer Gruppe begangen wird.
4. Der Täter mehrfach die Tat begangen oder im Grenzgebiet versucht hat, oder wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.“
Und in Absatz 3: „Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“
Die Überwindung der Mauer an der Westgrenze war mir ohne Regime-Kenntnisse zu gefährlich. Über die Grenze der ČSSR nach Bayern oder Österreich zu gehen war durch die diplomatischen Verwicklungen, die es gebracht hätte, nicht als Druckmittel für die Rückreise geeignet. Vielleicht gab es einen Weg durch die Luft? Dazu hätte ich aber Flugkünste und gewiss einen Mitwisser benötigt. Es blieb also nur die Ostsee.
Die meisten Fluchtwilligen, welche die Ostsee als Grenzdurchbruchsort im Hinterkopf hatten, dachten an das Fischland oder den Weststrand der Halbinsel Darß, wo es nur 36 Kilometer bis zur dänischen Insel Falster sind, andere an die Insel Poel, die noch näher an der Küste Ostholsteins liegt.
Ohne schon konkrete Pläne im Auge zu haben, bemühte ich mich für die Sommersaison 1981 um die Bewirtschaftung eines von der Mitropa betriebenen Seebäderschiffs der „Weißen