Stiefelschritt und süßes Leben. Klaus MullerЧитать онлайн книгу.
die ich durch meine pfiffige Antwort an den Politnik ergattert hatte. Zudem interessant – viele Karten der Leserkartei gingen zurück bis ins Gründungsjahr der Schule der Kasernierten Volkspolizei in Eggesin im Jahre 1951. Auf den Karten waren Name, Geburtsdatum, Dienstgrad, Einheit und Beruf angegeben. Es erstaunte mich schon sehr, dass bei den meisten Offizieren als Bezeichnung des Berufs „ohne“ stand. Erst die jüngeren Offiziere waren angehalten worden, „Offizier der NVA“ als Berufsbezeichnung anzugeben.
Bis kurz vor Weihnachten benötigte ich, um die druckfrisch gelieferten Bücher zu erfassen und Ordnung in die Bibliothek zu bringen.
Es war Anweisung, die Hauptwerke des Marxismus-Leninismus alle zehn Jahre zu erneuern, also die Exemplare auszuwechseln. Das waren: Marx/Engels „Gesammelte Werke in 18 Bänden“ und W. I. Lenin „Werke in 24 Bänden“. Die neuen Exemplare auszupacken, hatte meine Vorgängerin mir überlassen, aber auch, die alten zu entsorgen.
Alt? Laut eingeklebter Leihzettel hatte seit 1951 noch nicht einer diese herrlichen, in blauem und braunem Leder gebundenen und mit Goldschrift versehenen Bände in der Hand gehabt, die sollten nun ins Altpapier!
Heute sind diese Bände ein Vermögen wert, mancher Bourgeois schmückte gern für viel Geld damit sein Arbeitszimmer, quasi als Trophäe. Allerdings wiegen alle 42 Bände knapp zwei Zentner; solche Lasten kann man nicht einfach mit der Feldpost nach Hause schicken.
Ich schaute aber doch in meinen Mußestunden in die Marx-Engels-Bände, besonders das Frühwerk, intensiv hinein. Hochinteressant waren vor allem Marxens Gedanken zum Krimkrieg und zur Olmützer Vereinbarung, die für den historisch Interessierten eine wahre Fundgrube darstellten.
Die alten Bände wanderten ins Altpapier, und die neue Ausgabe von 1962 stand in den Regalen; ich verwaltete nun tatsächlich eine ordentliche Bücherei.
Nach wie vor aber sah ich meinen Dienst bei der NVA als Strafe des Schicksals an. Vor Weihnachten fragte mich der Spieß, ob ich über die Feiertage oder über den Jahreswechsel in Urlaub fahren wolle. „Ich fahre nicht in Urlaub!“, entgegnete ich.
Irgendwann hat der Spieß das wohl dem Batteriechef erzählt, und der sprach mich eines Tages unter vier Augen darauf an. Ich muss nochmal erwähnen, dass von den drei Offizieren der Batterie nur die beiden Unterleutnants Widerlinge waren; Oberleutnant Strohbusch war ein 28-jähriger, stuckiger Mann, der auf seine Art um Gerechtigkeit und Harmonie bemüht war. Er ertränkte aber die Tristesse seines Daseins oft im Alkohol, wie man sagte und wie ich nach meiner heutigen Kenntnis, wenn ich mir seine Physiognomie ins Gedächtnis rufe, auch sagen würde.
Er fragte mich nun, fast sanft, warum ich nicht mal raus wolle. Ich dachte: ‚Dem sagst du’s.‘ – „Ich schäme mich, Genosse Oberleutnant; wir sind eine alte Arbeiterfamilie, waren immer gegen’s Militär. Mein Vater erzählt jedem, der nach mir fragt, ich wäre im Knast. Da kann ich nicht einfach in Uniform aufkreuzen.“
Der Batteriechef hätte nun mit der „Armee der bewaffneten Arbeiter und Bauern“, die die NVA ja sein sollte, argumentieren können. Er sagte aber nur: „Ja, wenn das so ist, dann bleiben Sie eben da!“
Es wurde ein trauriges Weihnachten, so richtig für einen gemacht, der seine Feindschaft gegen das System schärfen will. Obendrein war es gesund: Ohne fettes Geflügel und ohne Alkohol, der für mich immer Genuss bedeutete, kein Mittel war, um Tiefpunkte zu verdrängen. Allerdings habe ich in dieser Zeit meine erste Zigarette geraucht.
An diesen Weihnachtstagen sah ich natürlich oft im Gemeinschaftsraum der Kaserne, in Traurigkeit und Vereinsamung, das DDR-Fernsehen. Die Programmgestalter aus Adlershof hatten sich am Nachmittag des Heiligabends etwas besonders Weihnachtliches ausgedacht. Man strahlte einen sowjetischen Propagandafilm aus, der die Stärke und Zerstörungskraft der Nuklearwaffen der Sowjetarmee zeigte. Hier verbrannten angepflockte Tiere in Sekundenschnelle zu Asche, und Nuklearstürme fegten ganze Landstriche mit Bäumen, Gebäuden und Fahrzeugen hinweg. Nie wieder in der Zeit des „Kalten Krieges“ zeigte man solche schrecklichen Bilder wie an diesem Weihnachten des Jahres 1964.
In den ersten Januartagen des Jahres 1965 teilte mir das Dresdner Jugendamt mit, dass Bruni am 21. Dezember 1964 mit einem Knaben niedergekommen war. Nebenbei hatte sich die NVA verpflichtet, die fälligen Alimente von 40 Mark monatlich für den wehrpflichtigen Vater des Kindes zu übernehmen.
Frühjahrsmanöver
Der Winter war noch nicht vorüber, da begann im März 1965 das große Frühjahrsmanöver. Nach dem ersten Ton des Regimentsalarms schnappte ich meine Kiste mit den geheimen Gefechts-DVs und schleppte sie zum Führungsfahrzeug des Regiments. Anschließend musste ich um eine andere Kiste bemüht sein, die Spirituosen und Kaffee enthielt, aber genauso geheimnisumwittert war.
In einem weiteren Fahrzeug der Führungsgruppe fuhr ich dann, quasi als Stabsordonnanz, durch den Militärbezirk 5 und besuchte alle Feldherrnhügel daselbst.
Besonders martialisch ging es auf dem Feldherrenhügel zu, auf dem Generaloberst Stechbarth sein Zelt hatte aufstellen lassen. Unser Regimentskommandeur, Oberstleutnant Meyer in Eggesin, ein Gott, stand hier stumm wie ein Lakai herum, durfte erst seine Meldung brüllen, wenn er gefragt wurde. Unaufgefordert huschten immer mal Kuriere durch das Zelt, trugen Papierstreifen in der Hand, auf denen zweifellos wichtige Meldungen standen.
Plötzlich brüllte der Oberkommandierende los wie Agamemnon, als der von der Weissagung des Kalchas betreffs seiner Tochter Iphigenie hörte: „Man muss sich ja regelrecht schämen als deutscher Soldat; da gehen die Amis in sechs Stunden über die eisführende Donau, und diese Lahmärsche“ – er meinte die Pioniertruppen der NVA – „brauchen fast einen ganzen Tag für die pisswarme Elbe!“ Als wolle er den Zorn seines Herrn beschwichtigen, kam ein Hauptmann an mich heran und zischte mir zu: „Sofort Tee für den Generaloberst und eine Runde Wodka für die Genossen Stabsoffiziere!“
Ich warf sofort den Teesieder an, der wohl durch einen Feldgenerator mit Strom versorgt wurde, stellte die Tasse mit Teebeutel und acht Gläser auf ein Aluminiumtablett, wie es bis zum Ende der DDR auch in den HO-Gaststätten verwendet wurde, steckte den Spirituosenausgießer auf die 500 ml fassende Wodkaflasche und wartete kurze Zeit, bis das Teewasser kochte. Dann goss ich den Tee auf, balancierte das Tablett mit Tasse und den acht Wodkagläsern auf drei Fingern der linken Hand nach oben, fasste die Wodkaflasche zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten, schritt auf den Feldherrntisch zu und riss die Wodkaflasche, wie ich es oft bei Monsieur Vernon im „Berghof Zschertnitz“ gesehen hatte, zwischen den beiden Fingern nach oben, wobei der Wodkastrahl genau ein einzelnes Glas traf und es mit abgemessenen 60 ml füllte. Spitze der Servierkunst: Nun setzte ich die Flasche nicht etwa ab, um das nächste Glas zu füllen, sondern führte die ausgestreckte Hand mit der Flasche ruckartig nach unten und führte sie gleichzeitig, wenn sich der Wodka in der Schwerelosigkeit befand und daher nicht mehr austrat, über das nächste Wodkaglas, wo die Schankprozedur aufs Neue begann.
Als alle Gläser gefüllt waren, klemmte ich die fast leere Wodkaflasche – sie enthielt einen Rest von 20 ml – zwischen die freien Mittel- und Ringfinger der linken Hand unter dem Tablett und servierte dem staunenden Feldherrn mit der nun wieder freien rechten Hand seinen Tee. Dann reichte ich das Tablett mit dem Wodka in die Runde der Stabsoffiziere. In dem Feldherrnzelt herrschte während meiner Prozedur mit der Wodkaflasche gespannte Aufmerksamkeit; solche Eleganz und Perfektion waren diese Leute in ihren Trinkstuben bisher nicht gewohnt.
*
Zum Militärbezirk 5 gehörten auch die ausschließlich von den Sowjettruppen genutzten Übungsplätze im Norden der DDR. Die Stäbe und Führungszüge der NVA-Regimenter waren jedoch mitunter dort auch präsent. Wir besuchten in der Nähe von Wittenberge einen solchen Truppenübungsplatz, wo ich ein höchst unappetitliches Erlebnis hatte, das ich, der Vollkommenheit meiner Erinnerungen halber, erzählen will, obwohl ich in meinen Kindheitserinnerungen, aus den desolaten Jahren nach dem Krieg, versprochen hatte, keine Fäkalienepisoden mehr zu Papier zu bringen. Das große Interesse an meinen Lebenserinnerungen, die ja nun zeitlich die Kindheit weit hinter sich gelassen haben, zwingt mich aber, das Folgende zu erzählen.