Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
wollte sie auf Pieter verzichten. Das schloss aber nicht aus, dass sie ihn jederzeit besuchen konnte.
»Mein kleiner Junge«, flüsterte sie ergriffen, als sie die Autobahn erreichte und die Richtung nach Sophienlust einschlug. Immer wieder wischte sie sich die Tränen fort, die unaufhaltsam aus ihren Augen strömten.
Frau Rennert begrüßte sie wie eine gute Bekannte, als sie die Halle betrat. »Die Kinder sind zum Waldsee gewandert«, berichtete sie. »Wenn Sie Lust haben, fahren Sie ihnen doch nach. Schwester Regine, mein Sohn, der hier als Zeichen- und Musiklehrer angestellt ist, und meine Schwiegertochter Carola sind ebenfalls dort.«
Anschließend ließ Julia sich den Weg von der Heimleiterin erklären und fuhr los. Lange brauchte sie nicht zu fahren. Als sie die Straße erreichte, die durch den Wald führte, verlangsamte sie das Tempo und schaute sich immer wieder nach beiden Seiten um. Dann erblickte sie den See, der wie ein dunkelgrünes Juwel zwischen den hohen Bäumen glitzerte.
Wenig später parkte sie den Wagen. Die Kinder hatten sie schon entdeckt und kamen ihr jubelnd entgegengelaufen. Auch die beiden großen Hunde begrüßten sie stürmisch, sodass sie Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Lachend wehrte sie sie ab.
»Wo ist denn Vati?«, wollte Pieter wissen.
»In New York. Aber er besucht dich bestimmt am nächsten Wochenende, Pieter«, antwortete Julia leise und konnte kaum einen Blick von dem rotwangigen Kindergesicht wenden. Mein Kind, dachte sie bewegt. Du bist mein Kind. Aber ich darf es dir nicht sagen.
»Tante Julia, weißt du, was ich heute Nacht geträumt habe?«, fragte der Junge mit einem schüchternen Lächeln.
»Nein, Pieter. Aber sicherlich möchtest du mir den Traum erzählen.«
»Ja, Tante Julia. Heidi habe ich ihn schon erzählt.« In den blauen Kinderaugen stand nun ein heller Glanz. »Ich habe geträumt, du seiest meine Mutti!«
»Ach, Pieter …«
»Warum weinst du denn, Tante Julia?«, fragte Heidi erstaunt.
»Ich weine doch gar nicht, mein Kleines.« Julia bückte sich und gab dem Mädchen einen Kuss. »Mir ist wohl etwas ins Auge gekommen.«
Da es noch früh am Nachmittag war, schlugen die Kinder und Erwachsenen die Richtung zum Forsthaus ein, wo sie immer gerngesehene Gäste waren. Pieter brannte darauf, seiner lieben Tante Julia die beiden Dachse zu zeigen, die die junge Förstersfrau Sabine Schröder, die Tierärztin war, mit der Flasche aufgezogen hatte.
Wie stets wurden sie alle von dem alten und dem jungen Försterehepaar herzlich begrüßt und bewirtet. Andi, der Sohn des jungen Paares, war ein fröhliches und aufgewecktes Kind, das auch einmal eine Zeitlang im Kinderparadies Sophienlust gelebt hatte und nach wie vor zu diesem Kreis gehörte.
An diesem Nachmittag freundete sich Julia ein wenig mit Carola Rennert an. Und am Abend war sie nahe daran, ihr von ihrem Problem zu erzählen. Dann aber dachte sie an Enno. Nein, sie durfte das Geheimnis um Pieters Geburt nicht preisgeben, sagte sie sich und schwieg deshalb.
Bevor Julia am nächsten Nachmittag Sophienlust wieder verließ, schloss sie Pieter noch einmal fest in ihre Arme. »Auf Wiedersehen, mein Liebling«, sagte sie mit tränenschwerer Stimme.
Wie meist besprach Pieter seine kleinen Probleme mit seiner Freundin Heidi. Wenn sie auch noch sehr klein war, hörte sie ihm doch wenigstens zu.
»Weißt du was, Pieter?«, meinte sie. »Bete halt zum lieben Gott und wünsche dir von ihm, dass Tante Julia deine Mutti wird.«
»Nein, das kann ich nicht. Denn dann müsste meine Mutti ja erst sterben. Tante Julia kann doch erst dann meine Mutti werden, wenn Vati sie heiratet. Aber noch ist er mit Mutti verheiratet. Aber er könnte sich doch scheiden lassen, um sie zu heiraten. Dann hätte ich zwei Muttis. Aber wohnen möchte ich lieber bei Tante Julia und Vati in der Villa und … Heidi, du hörst mir ja gar nicht mehr zu«, beklagte er sich nach einem Blick auf das Bett im Nebenzimmer. »Du schläfst ja schon.« Seufzend stieg Pieter aus dem Bett und knipste im Nebenzimmer das Licht aus.
»Vielleicht sollte ich doch beten«, flüsterte er, dann aber schüttelte er den Kopf. Nein, lieber nicht. Es würde schon alles so kommen, wie es kommen sollte, dachte er und stieg wieder ins Bett. Wenige Minuten später war er eingeschlafen.
*
Betty Cornelius wurde zu einem unlösbaren Problem für die Ärzte und Krankenschwestern. Aber in einem waren sie sich alle einig: Es bestand wenig Hoffnung auf eine vollkommene Heilung der Patientin.
Voller Sehnsucht wartete sie auf ihren Mann. Als sie eine Karte aus New York von ihm erhielt, steigerte sich ihre Verzweiflung ins Unermessliche. Und immer stärker wurde ihr Verlangen nach dem gewohnten Gift. Aber die Tabletten waren alle. Deshalb flehte sie die Ärzte an, ihr doch welche zu geben.
»Seien Sie doch vernünftig«, sagte ein junger Arzt, der noch keine sehr großen Erfahrungen gesammelt hatte. »Noch ein paar Tage, und Sie haben es überwunden.«
Betty glaubte ihm jedoch nicht. Zweimal erwischte man sie im Arztzimmer, als sie sich am Giftschrank zu schaffen machte. Und dann erschien Martin Aarhof, um das versprochene Geld abzuholen. In einem günstigen Augenblick war es ihm gelungen, ungesehen ins Sanatorium zu gelangen.
Betty stand am Fenster ihres Zimmers und blickte hinaus in das Regenwetter. Dabei überlegte sie, wie sie sich die Tabletten beschaffen könnte. Erschrocken drehte sie sich um, als jemand die Hand auf ihre Schulter legte.
»Sie?«, fragte sie tonlos, doch dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Gut, dass Sie kommen, Herr Aarhof. Ich brauche Tabletten. Sie müssen mir welche geben.«
»So einfach ist das nicht, meine Gnädigste.« Er lachte sie unverschämt an. »Erst das Geld, meine Schöne. Danach die Ware. Diesmal verlange ich einige tausend Euro.«
»Ich habe das Geld nicht. Ich habe nur fünfhundert Euro hier.«
»Dann gehe ich.« Er erhob sich, fest überzeugt, dass sie ihn belüge.
»Ich habe wirklich kein Geld. Aber ich habe Schmuck. Dieser Ring zum Beispiel ist allein schon ein kleines Vermögen wert.« Sie zog den Solitär vom Finger und reichte ihm das kostbare Schmuckstück.
»Ich kann ihn nicht verkaufen. Sie können …«
»Nichts werde ich unternehmen. Sie können auch noch die Perlenkette haben. Und auch noch diese Kette! Und …« Betty wühlte in ihrer Nachttischschublade. »Ich brauche den Schmuck nicht mehr. Nehmen Sie alles. Aber gehen Sie! Doch vorher geben Sie mir die beiden Röhrchen. Hat Claus Sie schon gefunden?«
»Claus? War er denn hier?«, fragte Martin erschrocken.
»Ja, er war hier. Nun weiß ich, dass er nichts mit den Erpressungen zu tun hat. Sehen Sie sich vor ihm vor. Ich hätte Ihnen auch keinen Cent, kein Schmuckstück gegeben, wenn ich die Tabletten nicht so nötig bräuchte. Und dann war auch Frau van Arx da. Julia van Arx, die Frau, der Claus das Kind weggenommen hat. Sie wird Sie …« Nur eine Sekunde zögerte Betty, bevor sie fast triumphierend rief: »Sie wird Sie wegen Erpressung anzeigen, Herr Aarhof.«
Martin Aarhof zuckte zusammen. Er hatte es plötzlich sehr eilig, fortzukommen. Er raffte den Schmuck zusammen, ließ ihn in seine Sakkotaschen gleiten und packte dann die Geldscheine. »Leben Sie wohl, meine Gnädigste!«, rief er von der Tür her.
Dann war Betty allein. Wie eine Todkranke sank sie auf das Bett. Ein irres Lächeln umspielte ihre blassen Lippen. Für sie gab es keine Zukunft mehr. Enno hatte sie verlassen. Bestimmt war Julia van Arx mit ihm zusammen in New York. Natürlich würde sie ihm die Wahrheit erzählen. Und Enno würde sich von ihr, Betty, scheiden lassen, damit er Julia heiraten und Pieter behalten konnte. Dieses Unglückskind war an allem schuld. An allem.
Betty wartete noch, bis es still wurde im Sanatorium. Sie wusste, sie hatte viele Stunden Zeit, um eine Tablette nach der anderen einzunehmen. Die letzten löste sie in Wasser auf. Sie hatte kaum noch die Kraft, das Glas an den Mund zu heben. Fast hätte sie sich erbrochen, als sie die bittere Flüssigkeit