Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa SimonЧитать онлайн книгу.
während er mit seiner Mutter Kontakt aufnimmt. Er kennt sie ja überhaupt nicht, auch wenn sie ihm zum Geburtstag oder zu Weihnachten Päckchen geschickt hat.«
Julia nickte. Sie hatten vorher mit der Heimleiterin besprochen, daß sie, sowie Philipp im Büro war, Kevin aus dem Zimmer zu locken, damit er nicht mitbekam, wie dessen Habe eingepackt wurde. Verabschieden konnten sich die beiden Jungen später.
Zaghaft trat Julia in das Zimmer der beiden. Philipp saß am Schreibtisch und betrachtete durch seine Lupe eine tote Biene, während Kevin wie üblich auf der Fensterbank saß und in den Regen hinausstarrte.
»Philipp, gehst du bitte mal ins Büro von Frau Clasen?« sagte sie betont leichthin.
Der Junge machte große Augen. Normalerweise hatte man mit der Heimleiterin nichts zu tun. Was konnte sie bloß von ihm wollen?
»Keine Angst«, sagte Julia und fuhr dem Kleinen lächelnd durch das Haar. »Du hast nichts verbrochen.«
»Bestimmt nicht?«
»Ganz bestimmt nicht.«
Augenblicklich trollte sich Philipp und verschwand aus dem Raum. Zögernd trat Julia zu dem einsamen kleinen Jungen am Fenster. »Kevin, laß uns mal ein bißchen runtergehen.«
»Wieso?« Er blickte Julia ängstlich an, als ahne er, was auf ihn zukommen würde.
»Komm mit, ich möchte etwas mit dir besprechen. In diesem Zimmer hat man ja keine richtige Ruhe, weil Philipp gleich wiederkommt.« Das war eine glatte Lüge, aber etwas besseres war Julia nicht eingefallen, um Kevin aus dem Raum zu locken.
Er stand auf und sah plötzlich ungläubig zu Julia empor. »Ist… meine Mutter gekommen?«
Julia blieb fast das Herz stehen vor Schreck – jetzt war es noch schwieriger, ihm Philipps Abschied zu erklären…
*
Kevin lag mit weit geöffneten Augen in seinem Bett und starrte in die Dunkelheit. Morgen hatte er Geburtstag, aber er freute sich nicht darüber.
Vom anderen Bett klang ein Schluchzen herüber, das von Markus kam, dem Jungen, mit dem Kevin seit Philipps Fortgang das Zimmer teilte. Markus kam aus einer zerrütteten Ehe, in der beide Elternteile ständig betrunken waren und der Junge mehr Schläge als Zuneigung bekommen hatte. Trotz der schlimmen Verhältnisse hatte Markus Heimweh nach seinem Zuhause, so daß er sich jeden Abend in den Schlaf weinte.
Julia hatte gemeint, daß Kevin sich mit Markus genauso anfreunden könne wie mit Philipp, aber das stimmte nicht! Markus machte sich nichts aus dem Betrachten von Bilderbüchern oder Malen. Er wollte am liebsten mit Kevin den ganzen Tag raufen.
Auch ihm rollten jetzt Tränen über das Gesicht, aber es war dunkel, und niemand konnte ihn weinen sehen. Er dachte an den Tag zurück, als Julia ihm erzählt hatte, daß Philipps Mutter gekommen sei. Zuerst konnte Kevin es nicht glauben, aber als er wieder in sein Zimmer kam, waren Philipps Sachen fort, als wäre er nie dagewesen.
Julia war dann noch einmal gekommen, um Kevin zu holen, damit er sich von seinem Freund verabschieden konnte. Philipp hatte über das ganze Gesicht gestrahlt, während Kevin nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. Philipp schien der Abschied nicht viel auszumachen, aber das war ja auch verständlich. Wenn seine eigene Mutter gekommen wäre, hätte er auch nicht an zurückgelassene Freunde gedacht.
Plötzlich setzte sich Kevin mit einem Ruck auf. In seinem Kopf war in Sekundenschnelle ein Plan entstanden: Wenn seine Mutter nicht zu ihm kam, dann mußte er eben zu ihr gehen! Weshalb war er nicht schon viel früher darauf gekommen?
Vorsichtig spähte Kevin zu Markus hinüber. Dessen ruhige Atemzüge ließen darauf schließen, daß er endlich eingeschlafen war. Ganz leise stand Kevin auf, um seinen Zimmergenossen nicht zu wecken. Markus durfte auf keinen Fall erfahren, was Kevin vorhatte!
Auf Zehenspitzen schlich er zu dem Stuhl, auf dem seine Sachen lagen, und zog sie schnell an. Dann nahm er seinen kleinen Rucksack vom Haken, packte etwas Wäsche und natürlich seinen Teddy ein.
Kevin hatte schreckliche Angst, daß jemand hören könnte, wie er die Tür öffnete – aber im Haus blieb alles ruhig. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch alle schienen bereits zu schlafen. Vorsichtig tastete sich Kevin das dunkle Treppenhaus hinunter, als er unterdrücktes Kichern vernahm, das eindeutig vom Untergeschoß herkam. Er beugte sich etwas über das Geländer und konnte sehen, daß das Zimmer, in dem die Erzieherinnen ihre Mahlzeiten einnahmen und mal in der Pause eine Tasse Kaffee tranken, erleuchtet war und die Tür weit offen stand.
Kevin wußte, daß auch nachts immer zwei Frauen Dienst hatten, falls mal mit einem Kind etwas passieren sollte. Zum Glück brauchte er, wenn er nach draußen wollte, nicht an diesem Raum vorbei, sondern mußte die entgegengesetzte Richtung einschlagen.
Ganz langsam setzte Kevin einen Fuß vor den anderen, bis er an der Eingangstür angekommen war. Enttäuscht stellte er einen Augenblick später fest, daß sie verschlossen war. Etwas ratlos blieb er davor stehen, bis ihm einfiel, daß es da ja noch die Hintertür gab – das Dumme allerdings daran war, daß er, um dorthin zu kommen, an dem Aufenthaltsraum vorbeigehen mußte.
Obwohl es kühl war, standen Kevin kleine Schweiperlen auf der Stirn; er durfte unter keinen Umständen entdeckt werden. Der Flur war nur schwach erleuchtet, aber Kevin wäre es in diesem Moment am liebsten gewesen, wenn es stockfinster gewesen wäre. Dann wäre mit Sicherheit nicht aufgefallen, wenn er sich zum Hinterausgang schleichen würde.
Vorsichtig an die Wand gedrückt, schlich Kevin sich bis zum Aufenthaltsraum. Er wagte kaum zu atmen, als er langsam den Kopf ein wenig vorschob, um in das hell erleuchtete Zimmer zu sehen. Am Tisch saßen Diana und Marianne, jeder eine Tasse vor sich. Der Fernseher lief, und beide sahen gebannt auf den Bildschirm.
Mit zwei schnellen Schritten rannte Kevin an der Tür vorbei. Geschafft! Jetzt konnte er nur hoffen, daß die Hintertür nicht verschlossen war.
Doch natürlich war auch diese Tür abgeschlossen, und Kevin sah sich etwas ratlos um. Wie sollte er seine Mutter suchen, wenn es ihm noch nicht einmal gelang, das Heim zu verlassen?
Da fiel sein Blick auf einen Haken neben dem Türrahmen, an dem ein Schlüssel hing. Kevin wagte nicht zu hoffen, daß dies der Schlüssel für die Hintertür war, aber er mußte es jedenfalls versuchen. Er streckte seine Arme danach aus, doch er war zu klein, um ihn zu erreichen. Kurzerhand nahm sich Kevin einen Hocker, stieg darauf und nahm den Schlüssel ab.
Hier im hinteren Bereich des Hauses brauchte er nicht so vorsichtig zu sein. Dort lagen die Küche und der Speisesaal, wo sich zu dieser Zeit kein Mensch aufhielt.
Mit klopfendem Herzen steckte Kevin den Schlüssel in das Türschloß – und wenige Sekunden später stand er im Freien!
Erleichtert atmete er auf; bis jetzt hatte alles hervorragend geklappt. Jetzt hieß es, das Gelände zu verlassen – Kevin wußte jedoch, daß er sich nicht die Mühe machen brauchte, zum Eingangstor zu gehen. Das ließ sich nachts nur durch einen elektrischen Öffner im Haus öffnen, aber es gab da am Ende des Gartens ein Loch im Zaun, durch das die größeren Kinder öfters kletterten, wenn sie heimlich im nahegelegenen Geschäft Süßigkeiten kaufen wollten.
Kevin wußte, wo sich dieses Loch befand, hatte es aber selber noch nie benutzt und auch nicht der Heimleiterin verraten. Jetzt war er froh darüber, daß er geschwiegen hatte. Geduckt und immer wieder einen schnellen Blick auf das dunkle Haus werfend, kroch er zum Zaun und schließlich hindurch.
Wenn er Glück hatte, würde man sein Verschwinden erst am nächsten Morgen entdecken – aber dann war er schon längst über alle Berge.
Etwas ratlos stand Kevin auf dem regennassen Gehweg – in welche Richtung sollte er laufen? Er zog den Reißverschluß seines Anoraks höher, weil ihm plötzlich kalt wurde…
*
Julia war bereits eine halbe Stunde vor Dienstantritt im MARIENKÄFER, denn es war ein besonderer Tag – Kevins Geburtstag! Das hübsche Bilderbuch hatte sie in buntes Geschenkpapier eingeschlagen und noch