Mami Staffel 8 – Familienroman. Lisa SimonЧитать онлайн книгу.
geworden zu sein, und sie wünschte sich, mehr für ihn tun zu können als ihm eine kleine Geburtstagsfreude zu machen.
Unauffällig schmuggelte Julia das Geschenk in den Aufenthaltsraum, in dem sich auch die Schränke für die persönlichen Sachen der Angestellten befanden. Auf keinen Fall durfte Frau Clasen bemerken, daß sie Kevin ein zusätzliches Geschenk überreichen wollte: So etwas sah sie gar nicht gern.
Julia würde es ihm geben, wenn die größeren Kinder in der Schule und die jüngeren in der Bastelstube wären, da fiel es dann am wenigsten auf.
Sorgfältig schloß Julia ihren Spind ab, als sie aufgeregte Stimmen auf dem Gang hörte. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen; und Bärbel Clasen trat mit hochrotem Kopf ein.
»Gut, daß Sie schon hier sind!« sagte sie atemlos. »Kevin ist weg!«
»Was?« Julia glaubte, sich verhört zu haben.
»Der Junge muß irgendwann heute nacht heimlich das Heim verlassen haben.« Erschöpft ließ sich Frau Clasen auf einen Stuhl plumpsen. »Wissen Sie, wohin er gegangen sein könnte?«
Stumm vor Entsetzen schüttelte Julia den Kopf. Warum hatte Kevin das getan? Er kannte außer den Leuten im Waisenhaus niemanden!
Frau Clasen sprang wieder auf, in ihrem Gesicht zeichneten sich hektische Flecken ab. »Wir müssen die Polizei benachrichtigen!«
Im Laufe des Vormittags erfuhr Julia, daß Markus der erste war, der Kevins Verschwinden bemerkt hatte.
Er mußte kurz vor dem Wecken zur Toilette und hatte sich gewundert, daß Kevin noch nicht wach war wie sonst.
Julia versuchte vergeblich, Diana zu beruhigen. Sie gab sich die Schuld daran, daß Kevin das Heim verlassen hatte, ohne daß sie es bemerkte. »Weißt du, wenn ihm etwas passiert ist, werde ich mein ganzes Leben nicht mehr glücklich.«
»Das hätte jedem von uns passieren können«, sagte Julia in überzeugendem Ton. »Kevin ist eben ein gewitztes Bürschchen. Als er merkte, daß er zur Vordertür nicht hinauskonnte, ging er zum Hinterausgang – der Schlüssel hängt ja für alle sichtbar dort«, fügte sie mit einem bitteren Unterton hinzu.
Man hatte natürlich den Hocker neben der Tür gefunden, somit war klar, welchen Weg der Junge gewählt hatte.
»Ich verstehe nur nicht, wie er das Gelände verlassen konnte«, schluchzte Diana. »Das Tor ist immer verschlossen und der Zaun ist viel zu hoch für einen kleinen Jungen, um darüber zu steigen.«
Auch Julia hatte sich darüber schon Gedanken gemacht, aber das war nicht so wichtig – einzig wichtig war, daß der Junge trotz intensiver Suche nicht mehr auf dem Gelände des Waisenhauses war.
»Weiß Marianne schon davon?« fragte Julia. »Sie hatte doch Nachtdienst mit dir, nicht wahr?«
Diana schüttelte den Kopf. »Ich habe sie schon heute morgen um fünf Uhr nach Hause geschickt, weil sie wieder Rückenschmerzen hatte. Du weißt ja, daß ihr bei feuchtem Wetter immer die Bandscheibe zu schaffen macht.«
»Ich koche uns erst einmal eine Tasse Kaffee, und dann solltest du nach Hause gehen und dich ausruhen; immerhin bist du die ganze Nacht auf den Beinen gewesen.« Julia ging zu der kleinen Anrichte und machte sich daran, die Kaffeemaschine in Gang zu setzen.
»Wir hätten nicht die halbe Nacht in den Fernseher gucken sollen, dann hätten wir bemerkt, daß sich Kevin an uns vorbeigeschlichen hätte«, jammerte Diana. »Ich werde hierbleiben – schlafen kann ich jetzt sowieso nicht.«
»Aber du kannst dich doch kaum noch auf den Beinen halten«, protestierte Julia, »wir können nur warten, was die Polizei herausfindet.«
»Eben, und dann will ich hier sein, wenn die Polizisten etwas gefunden haben!«
Diana war bereits von den Polizeibeamten vernommen worden, und auch Julia hatte einige Fragen beantworten müssen, da sie den Jungen am besten kannte. Viel hatte sie nicht sagen können, weil Kevin keinerlei Andeutungen gemacht hatte, was er vorhatte.
Plötzlich fuhr Julia ein Gedanke durch den Kopf. Zu Diana sagte sie: »Bin gleich wieder da!« Dann lief sie in den Speisesaal, wo zwei weibliche Polizisten dabei waren, die Kinder, die ein wenig Kontakt zu Kevin hatten, zu befragen.
Julia blieb in der Tür stehen und machte eine stumme Handbewegung zu der jungen Polizeimeisterin, die gerade aufsah. Ellen Langner kam sofort zu Julia; sie ahnte, daß die Erzieherin etwas Wesentliches zu sagen hatte.
»Mir ist da noch etwas eingefallen«, sagte Julia schnell, »Kevin hat immer viel am Fenster gesessen oder zur Eingangspforte gestarrt, in der Hoffnung, daß seine Mutter auftaucht.«
»Seine Mutter? Dann ist er kein Waisenkind, und wir müssen sie benachrichtigen!« Die Beamtin wollte sich schon zum Gehen wenden, doch Julia hielt sie am Ärmel ihrer Uniformjacke zurück.
»Marion Seifert hat Kevin vor etwa einem Jahr zur Adoption freigegeben – sie wird kaum wissen wollen, was mit ihrem Sohn passiert ist.«
Ellen Langner sah betroffen auf Julia. »Dann hat sie gar keinen Kontakt mehr zu ihm?«
»Hatte sie noch nie!« rief Julia verbittert, und dann erzählte sie kurz, was sie über Kevins Vergangenheit wußte. Ellen Langners Erschütterung war ihrem hübschen Gesicht anzusehen.
»Aber was ich eigentlich sagen wollte: Es wäre möglich, daß Kevin sich auf die Suche nach seiner Mutter gemacht hat, weil sie sich nie hier hat sehen lassen«, erklärte Julia.
»Weiß er denn, wo sie wohnt?«
»Nein, er weiß noch nicht einmal, daß sie nichts von ihm wissen will!«
»Das ist ja schrecklich!« stieß Ellen hervor. »Ist Ihnen denn überhaupt bekannt, ob Frau Seifert hier in der Nähe lebt – und könnte Kevin dies möglicherweise herausgefunden haben?«
Julia seufzte. »Die Frau wohnt seit einiger Zeit in der Schweiz, für den Jungen also unerreichbar.«
»Nun ja, wenn ich mir so überlege, auf welche Ideen Kinder so kommen können…«
»Also, ich glaube vielmehr, Kevin irrt hier in der Stadt herum. Ich hoffe, daß ihm nichts passiert, bis er gefunden wird…«
*
Kevin wischte sich verwundert über die Augen und sah sich um. In dem Moment, als er aufwachte, wußte er nicht, wo er war. Er hatte nämlich geträumt, daß er aus dem Waisenhaus ausgerückt war, um seine Mutter zu suchen.
Als er ein zweites Mal die Augen öffnete, begriff er sehr schnell, daß dies kein Traum gewesen war – er lag nicht im Bett seines Zimmers im MARIENKÄFER, sondern in einem kleinen Raum, in dem lediglich das Bett stand, in dem Kevin lag, sowie ein alter Kleiderschrank und ein Tischchen mit einer altertümlichen, gußeisernen Nähmaschine darauf.
Jetzt fiel es ihm wieder ein – dies war das Nähzimmer der netten Frau Schröder, die ihn bei sich aufgenommen hatte!
Ein Geräusch ließ Kevin auffahren. Eine rotgetigerte dicke Katze sprang auf das Bett und musterte den kleinen Jungen neugierig. Kevin streichelte vorsichtig das dichte Fell und legte sich erleichtert zurück.
Er war die halbe Nacht in der Stadt herumgeirrt, hatte sich jedesmal versteckt, wenn ein Auto vorbeifuhr oder ihm jemand auf dem Gehsteig entgegenkam. Es war schon fast hell gewesen, als Kevin den Stadtrand erreichte. Er war müde, die Beine taten ihm vom vielen Laufen weh, und er wußte nicht, in welche Richtung er weiterlaufen sollte. Wenn er doch einen Anhaltspunkt gehabt hätte, wo ungefähr seine Mutter wohnen konnte!
Da hatte er gehört, wie jemand leise immer wieder ›Napoleon‹ in die Stille rief. Kevin war neugierig nähergetreten und hatte staunend beobachten können, wie eine ältere Frau in den Büschen nach etwas suchte.
»Kann ich Ihnen helfen?« hatte Kevin artig gefragt, und die Frau hatte sich sehr erschrocken. Wer vermutet schon zu solch früher Stunde einen einsamen kleinen Jungen unterwegs?
Kevin erfuhr dann,