Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman. Friederike von BuchnerЧитать онлайн книгу.
Bei mir ist alles irgendwie anders gekommen. Ich habe mich zu Anfang zwar nicht verlaufen. Ich war neugierig und habe den Weg bewusst gewählt. Ich wollte dahin. Und jetzt kommt es mir vor, dass ich mich verlaufen habe und es nicht gut für mich war. Ich frage mich, ob ich mich in meiner Lebensplanung auch verlaufen habe. Ich weiß gar nicht mehr, was ich will, und wie ich es machen will, und ob ich es kann. Ich bin mir auf alle Fälle nicht mehr sicher, dass das Opfer sich lohnt.«
»Welches Opfer?«
»Nun, das Opfer, niemals Ich selbst zu sein. Ich muss neutral sein, ein Unwesen, ein geschlechtsloses und herzloses Neutrum. Nur so kann ich es beschreiben. Anna, ich muss in der Lage sein, alles zu sehen, zu hören und wiederzugeben, ohne dass es mich persönlich berührt …, wie eine Filmkamera, ein Rekorder. Das sind tote Gegenstände, die nur funktionieren. Ich bin ein Mensch! Ich schaue anderen Menschen in die Augen. Ich sehe, wie sie leben und ich verstehe es nicht.«
Saskia seufzte tief.
»Anna, dir muss mein Gestammel ziemlich wirr vorkommen, nicht wahr?«
»Wirr, das ist vielleicht übertrieben. Aber es zeigt mir, dass du sehr durcheinander bist.«
»Anna, ich habe einen Typen gesehen! Wow, kann ich da nur sagen! Ein irrer Typ, ein Exemplar von Mann, wie du ihn dir nicht vorstellen kannst. Groß ist er. Breite Schultern hat er. Er hat die allerblausten Augen, die du dir nur vorstellen kannst. Seine Augen leuchten in einer ganz intensiven blauen Farbe, wie es sich nur schwer beschreiben lässt. Sie sind nicht himmelblau, nicht azurblau, nicht meerblau, nicht blau wie der Enzian. Es ist eine Mischung aus allen Blautönen der Welt.«
»Dich hat es ganz schön erwischt, wie?«
»So ist es, Anna! Das darf nicht sein! Das ist wirklich eine Katastrophe! Dieser Zustand gefährdet meine Objektivität.«
»So, so! Es beeinträchtigt deine Objektivität?«
Anna unterdrückte ein Schmunzeln.
»Ja, diese blauen Augen, die lassen mich nicht mehr los. Anna, er sah großartig aus. Er trug nur eine alte Lederhose mit Hosenträgern und Haferlschuhe. Ich dachte, ich falle in Ohnmacht, als er plötzlich vor mit stand. Aber …«
»Was ist aber?«
»Nun, mit dem Burschen und seinem Vater stimmt etwas nicht. Sie hausen in einer Almhütte, die nur von außen als Almhütte zu erkennen ist. Innen gleicht sie mehr einer Müllhalde. So etwas habe ich noch nie gesehen, Anna! Überall stand schmutziges Geschirr herum, gebrauchte Wäsche auf dem Boden, Fliegen überall, mehrere Benzinfässer voller leerer Konservendosen. Die Vorhänge waren fast schwarz. Spinnweben überall. Der Boden war voller Schmutz.«
»Jetzt fragst du dich, wie der schöne Bursche so leben kann?«
»Genau! Kein Mensch kann so leben!«
»Offensichtlich doch! Männer sehen Ordnung mit anderen Augen. Wenn es dort in der Almhütte keine Frau gibt, dann ist es eben eine Männerwirtschaft. Nicht jeder Mann hat das Talent eines Hüttenwirts, kann kochen und putzen, Gläser spülen und viele Dinge, die sonst jede Frau kann.«
»Aber dort war es besonders krass, Anna. Es herrscht einfach nur Chaos! Ich war erschüttert. Wie kann er dort leben? Wie kann jemand, der so ästhetisch ausschaut, so dahinvegetieren in einem solchen Schweinestall. Ja, Schweinestall, wobei das eine Beleidigung für jedes Schwein ist! Es war so abstoßend. Es war einfach unzivilisiert.«
Anna unterdrückte ein Schmunzeln.
»Aber dich zieht dieser unzivilisierte Bursche an?«
»Ja, ich gebe es zu. Er raubt mir den Verstand. Er interessiert mich. Aber das darf nicht sein. Ich muss es mir unbedingt versagen. Doch es gelingt mir nicht. Ich kann nicht mehr klar denken. Wie soll ich über die Geburt des Kalbes schreiben, oder über die Herzen an der Felswand, wenn er mir im Kopf herumgeht?«
Anna dachte nach.
»Saskia! Das mit dem beruflichen Abstand, der Distanz, die du halten willst, das ist Unsinn. Du machst dir selbst etwas vor. Für mich stellt sich das Ganze etwas anders dar.«
»Wie?«
»Langsam! Du erzählst mir jetzt alles, und zwar schön langsam der Reihe nach, von dem Augenblick an, als du bei meinen Schwiegereltern das Wirtshaus verlassen hast, bis zu dem Zeitpunkt, als du hier eingetroffen bist.«
»Warum?«
»Saskia! Bitte, tue es einfach! Ich höre!«
Anna schaute Saskia kein einziges Mal an, während diese redete. Es dauert lange, bis sie zu Ende war.
»Fertig!«, sagte Saskia.
»Gut!«, sagte Anna nach einer Weile. »Ich würde sagen, du hast dich in den Basler-Florian verliebt. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß, dass es einen Basler-Hof gibt. Meta und Xaver haben darüber geredet. Der BaslerHof war im Frühjahr in aller Munde.«
»So, warum?«
»Ich kann dir da nichts Genaues sagen. Ich weiß nur, dass die Bäuerin schon lange tot ist. Sie starb, kurz bevor Florian volljährig wurde. Sein Geburtstag lag einen Tag nach der Beerdigung. Florian ging an diesem Tag fort. Der Bauer igelte sich darauf hin ein. Er ging nicht mehr zum Stammtisch und nicht in die sonntägliche Messe. Nach und nach verkaufte er das Vieh. Er verpachtete seine Almen und lebte so vor sich hin. Der Hof verkam. Er besserte nichts aus, kümmerte sich um nichts. Das Geld muss auch knapp gewesen sein. Dann im Frühjahr kam eine Baufirma und renovierte den Hof. Eine Haushälterin zog ein und schaut seither nach allem. Der Basler-Bauer kaufte eine Menge Pinzgauer Rinder und zog auf die alte Almhütte. Es wurde sehr gerätselt, woher er das Geld hatte und der plötzliche Sinneswandel kam. Jetzt erzählst du mir, dass der Florian auf der Almhütte ist. Das ist eine Neuigkeit! Niemand in Waldkogel weiß davon. Dann scheinen die beiden sich nach all den Jahren ausgesöhnt zu haben. Das finde ich schön. Sicherlich ist die Geschichte kein Stoff für eine Reportage, aber das ist auch nicht wichtig. Saskia, halte dich nicht an Äußerlichkeiten fest. Mir scheint es, dass du dein Herz an Florian verloren hast. Er hatte dich eingeladen, zu bleiben. Du hast abgelehnt. Er hoffte auf ein Wiedersehen. Gib ihm eine Chance! Und vor allen Dingen, gib dir eine Chance! Das meine ich in doppelter Hinsicht. Erstens wegen dir selbst. Verschaffe dir Klarheit über deine Gefühle. Und zweitens hast du Stoff für eine Reportage über das Almleben eines Rinderzüchters.«
»Ich halte es auf dieser Almhütte keine Minute aus. Da muss man ja im Schutzanzug hin!«
»Dann mache sauber! Oder bringe Florian dazu, dass er sauber macht.«
»Du bist verrückt, Anna! An die Almhütte sollte man ein Streichholz halten und abbrennen.«
»Die alten Almhütten stehen unter Denkmalschutz!«
»Aha! Dann stehen die leeren Konservendosen, die schmutzige Wäsche, die dreckigen Vorhänge auch unter Denkmalschutz, wie?«
»Was greifst du mich an, Saskia?«
»Entschuldige, Anna! Ich bin nicht ganz bei mir!«
»Das weiß ich ja! Es fragt sich nur, was du jetzt tust? Die Kraft, die Begegnung zu vergessen, hast du offensichtlich nicht. Denn du bist in Florian verliebt. Seine blauen Augen bringen dich um deinen Verstand. Gib es zu!«
»Ja, schon, ich gebe es zu!«
»Dann packe zu!«
»Wie? Wie meinst du das?«
»Besen, Seife, Schrubber!«
»Du bist verrückt!«
»Und du bist verliebt! Also, wenn mir die Augen eines Mannes so gefallen würden, dann würde ich den ›Engelssteig‹ versetzen und das ›Höllentor‹ abtragen!«
Saskia seufzte tief.
»Anna, ich kann doch da nicht einfach hingehen und die Putzfrau spielen.«
»Nein, du kannst aber als Reporterin um ein Quartier bitten. Natürlich würdest du es bezahlen, in dem du etwas saubermachst. Himmel, Saskia! Du