Gegen die Spielregeln. Philea BakerЧитать онлайн книгу.
doch überhaupt nichts gegen dich sagen. Ich bin allein hinausgekommen, um etwas Luft zu schnappen und um dir zu sagen, wie wunderschön du heute aussiehst in dem Kleid, das dein Vater entworfen hat. Und ich wollte dich einladen. Für morgen. Zum Tee.«
»Zum Tee?«, grummelte sie.
»Genau.«
»Ich möchte nicht, Gerald. Es tut mir leid.«
»Bitte sei nicht so! Menschen, die dich mögen, weist du ab, und Menschen, die sich nicht für dich interessieren, läufst du hinterher!«
»Was meinst du damit?« Alessas Stimme nahm eine tiefe Färbung an.
»Nichts. Gar nichts. Ich wollte dich einladen. Du bist doch so interessiert an Naturwissenschaften. Ich wollte dir meine Schmetterlings-Sammlung zeigen.«
»Du tötest Schmetterlinge?«, fragte sie, wobei sich ihre Stimme fast überschlug.
»Alessa, beherrsche dich. Ich tue das aus rein ästhetischen und wissenschaftlichen Gründen. Denk daran, was ihr im Krankenhaus in euren Gläsern alles aufbewahrt …«
»Ich möchte nicht, dass du noch einmal meine Arbeit auf dein Fliegenfänger-Niveau herunterziehst. Du füllst Bilderrahmen – ich rette Menschen.« Eine Pause entstand, wenn auch von kurzer Dauer. Der Ton, den sie nun anschlug, kannte sie nicht einmal selbst. »Und wenn du noch ein einziges Mal abwertend über Menschen wie Ryon Buchanan sprichst, dann reiße ich dir den Kopf ab und seziere ihn eigenhändig in der Pathologie des St Thomas’ Hospital, um jedermann zu beweisen, wie klein dein weißes Hirn ist.«
»Alessa! Bist du des Wahnsinns? Du weißt nicht, was du da sagst! Der Mann, mit dem du getanzt hast …« Seine Hand umfing ihren Oberarm, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, doch sie entriss sich ihm sofort.
»Der Mann, mit dem ich getanzt habe, geht dich nicht das Geringste an. Und nun verschwinde, bevor ich mich völlig vergesse!« Ihre Stimme war nur noch ein Zischen.
Bonniers schrak zurück. »Du hast zu viel getrunken, Alessa. Du bist nicht ganz bei Sinnen.«
»Vielleicht habe ich zu viel getrunken. Aber ungeachtet dessen habe ich meine Sinne immer noch besser beisammen als du. Wäre es anders, würdest du endlich begreifen, dass ich nichts mit dir zu tun haben möchte. Oder, um es deutlicher auszudrücken: Hättest du nur halb so viel Verstand und Feingefühl wie Ryon Buchanan, dann hättest du das längst begriffen!«
»Aber deine Mutter …«
»Sie ist nicht meine Mutter, geht das nicht in deinen Schädel?! Geh jetzt, Gerald. Sofort.«
Bonniers sah sie entgeistert an, dann verzogen sich seine Gesichtszüge zu einem hämischen Grinsen. »Du hast doch nur Mitleid mit ihm.«
»Nein. Mitleid habe ich bestimmt nicht mit ihm. Er ist ein Mann. Ein echter Mann. Ein angesehener Schiffsbauingenieur, der auf eigenen Füßen steht. Vor wenigen Tagen hat er seinen Vater verloren. Es ist schändlich, wie über ihn gesprochen wird, ganz besonders in der Situation, in der er sich befindet.«
Sie lachte hart. »Mit den Leuten da drinnen, die schlecht über ihn reden, habe ich Mitleid, Gerald. Und natürlich mit dir …«
Bonniers Brauen zogen sich so stark zusammen, dass sie wie ein einziger Strich aussahen. »Das wird ein Nachspiel haben, Alessa.«
»Das wird überhaupt kein Nachspiel haben, Gerald. Du bist hier nicht der Bestimmer. Oder willst du etwa petzen? Ich weiß auch einiges über deine Person, bedenke dies.«
Er sah sie entsetzt an und stieß heftig den Atem aus, bevor er kopfschüttelnd den Balkon verließ. Für einen kurzen Moment drang beschwingte Ballmusik zu ihr hinaus. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss. Dann wurde es wieder angenehm still.
Sie seufzte laut auf. Unendlich froh, dass er gegangen war, ließ sie den Blick über die Stadt schweifen. Gerald war lästig. Die rassistischen Bemerkungen über Ryon, die sie an diesem Abend hatte anhören müssen, verletzten sie zutiefst. Sie wusste selbst zu gut, wie es war, wenn schlecht über einen gesprochen wurde. Als sie bei Florence zu arbeiten angefangen hatte, war es wie ein Lauffeuer durch alle Kreise gezogen: Alessa Arlington arbeitet jetzt als Krankenschwester! Nur Frauen aus der Unterschicht übten diesen Beruf aus. Alkoholikerinnen und Drogenabhängige, Prostituierte! Sie bringt ansteckende Krankheiten in unsere Häuser. Sie fasst Blut an. Sie wäscht Männern den Po. Sie fasst Tote an. Sie muss eine Schwesterntracht tragen! Sie muss tun, was andere von ihr verlangen … Inzwischen stand sie über dem Gerede. Aber vergessen war es nicht. Ihre Gedanken wanderten wieder zu Ryon Buchanan. Er hatte studiert, ein Schiff konstruiert. All das zählte nicht. Die Leute sahen in ihm, was sie sehen wollten: einen Wilden. In Amerika war das ganz sicher anders. Amerika war fortschrittlich. Schon allein deshalb, weil Frauen dort studieren und ihren Abschluss machen konnten. Sie sollte nicht länger zögern, sofern sie eine Zusage erhielt. Allerdings rechnete Florence fest damit, dass sie das kommende Schuljahr betreuen würde, und sie hatte zugesagt, diese Aufgabe zu übernehmen. Aber was hieß das schon? Nichts! Sie war ein freier Mensch. Genauso frei wie Ryon Buchanan, der sein Zuhause verlassen hatte, um in einer fremden Stadt zu studieren. Sie atmete tief durch und schlenderte den Balkon entlang, langsam, noch immer ihren Gedanken nachhängend. Als sie die Ecke des Balkons erreichte, hob sie den Blick. Die Ellenbogen auf das Geländer gestützt, die Augen auf sie gerichtet, stand Ryon Buchanan. Als er sie sah, richtete er sich auf.
Ihr stockte der Atem und das Blut schoss ihr ins Gesicht. »Sie haben die ganze Zeit hier gestanden? Und haben alles gehört?«
Ryon schritt auf sie zu. Er legte beide Hände um ihre Taille und zog sie an sich. Sie konnte seine Atemzüge spüren, als er sich langsam zu ihr hinabbeugte und sie küsste. Das Gefühl war berauschend und ließ sie schwindeln. Ein unbändiges Verlangen überkam sie. Sie schlang die Arme um seinen Körper, doch kaum dass sie es tat, löste er die Umarmung. »Sie sind ein Wildfang, Ms. Arlington«, sprach er lächelnd.
Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging.
Nach wenigen Minuten schon betrat Alessa wieder den Ballsaal. Sie drängte sich durch die Menschen, suchte nach Ryon. War er noch da? Sie fand ihn in ein Gespräch vertieft mit einem Mann. Verwundert erkannte sie, dass es der Inspector war, den sie durch John Croft auf der Bothnia kennengelernt hatte. Der Inspector war im Anzug da. Warum war er hier? Der Inspector ließ gerade seinen Blick abschätzig über Ryons Zopf streifen, wobei er registrierte, dass sie die beiden Männer beobachtete. In der nächsten Sekunde wandte er sich wieder um, doch Ryon hatte bemerkt, dass die Aufmerksamkeit des Inspectors abgewandert war und drehte ebenfalls den Kopf. Sie zuckte zusammen, als er sie ansah. Genau in diesem Moment wurde es laut im Raum.
»Sabotage! Die Bothnia ist sabotiert worden! Es wurde Dynamit sichergestellt auf dem Schiff!«
Alessa sah, wie ein Mann bei Kapitän William McMickan stand und – offensichtlich in Rage – nun auf ihren Onkel, der mit ihrer Tante und zwei Herren zusammenstand, zuschritt. Entsetzt verfolgte sie das Geschehen.
»Mr. Bridgetown feiert! Als sei nichts geschehen!« Der Mann baute sich vor ihrem Onkel auf. Die Musik brach ab. Alle Augen im Saal richteten sich auf den Mann und Bridgetown. »Ich, George Tendman, bin im Lloyd’s of London eingetragen als The Name of the Bothnia, also als Versicherer der Bothnia. Kaum dass sie im Lloyd’s Register registriert ist, fliegt der Dampfkessel der Bothnia in die Luft – und nun erfahre ich, dass Dynamit sichergestellt wurde und dass außerdem die Konstruktionspläne, die Sie, Mr. Bridgetown, sicher in Ihrem Hause verwahren sollten, gestohlen wurden!«
»Beruhigen Sie sich, Mr. Tendman«, entgegnete Bridgetown scharf.
»Beruhigen?«, schrie Tendman aufgebracht. »Ich habe ein Vermögen verloren. Das Lloyd’s Register ist kein sicherer Ort für die Verwahrung von Dokumenten. Offenbar hatte jemand in Ihrem Hause die Möglichkeit, sich über den Wert der Bothnia zu vergewissern und die Dokumente zu stehlen, und ist dann die entsprechenden Schritte gegangen, um die Bothnia aus dem Wettbewerb hinauszubomben! Wenn Sie es nicht selbst gewesen sind! Waren Sie nicht jüngst in Belfast und haben die Harland Werft besucht? Sind Sie nicht