Gegen die Spielregeln. Philea BakerЧитать онлайн книгу.
sein an diesem Abend? Alles in ihr schrie nein! »Ich habe gehört, Tanzen sei dein Steckenpferd? Jetzt will ich mich höchstpersönlich davon überzeugen …«
Alessa biss die Zähne zusammen und schlug die Augen nieder. Sie konnte ihn nicht abweisen, denn damit würde sie ihren Onkel und ihre Tante verärgern. Sie musste das Spiel mitspielen.
»Ich kann mir nichts Vergnüglicheres vorstellen, Gerald, als mit dir zu tanzen …« Es war ironisch gemeint, aber er bemerkte es nicht. Bonniers grinste schräg. »Teuerste Alessa …«, stieß er aus, aber sein Satz wurde jäh unterbrochen.
»Ms. Berett? Darf ich um diesen Tanz bitten?« Ryon Buchanan, in bester Garderobe, war zu ihnen an den Tisch getreten. Er sah umwerfend aus. Ihr war heiß. Sollte sie etwas sagen? Wieso forderte er nicht sie zum Tanz auf, sondern ihre Freundin?
Ryons Augen wanderten zu ihr. »Ms. Arlington. Wie schön, Sie heute Abend zu sehen.«
Sie nickte nervös. »Mr. Buchanan …« Sie verschluckte sich und musste husten. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte sie endlich wieder ein Wort heraus, wobei sie hätte schwören können, dass ihre Stimme wie die einer Zwölfjährigen klang, die die falsche Mahlzeit serviert bekommen hatte, dies aber nicht zugeben wollte. »Es freut mich ebenfalls, Sie wiederzusehen. Aber … entschuldigen Sie … ich wurde gerade zum Tanz aufgefordert.«
Sie wechselte einen Blick mit Eliza. Ihre Freundin schien sich zu amüsieren, ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Eliza stand schließlich auf und reichte Ryon Buchanan ihre Hand. »Nun, Mr. Buchanan, da Sie bereits meinen Namen kennen und ich nun auch den Ihren, müssen wir nicht unnütz Zeit vergeuden, uns bekannt zu machen. Lassen Sie uns tanzen gehen!« Ryon lachte auf, ein tiefes, warmes Lachen, und reichte Eliza galant seinen Arm.
Alessa kochte innerlich vor Wut als sie an Bonniers’ Seite den beiden zur Tanzfläche folgte. Es ärgerte sie maßlos, dass Buchanan nicht sie, sondern Eliza als Partnerin ausgewählt hatte. Und dass er ganz locker mit ihrer Freundin lachte. Als würden sie sich kennen. Eliza war ihre Freundin.
Der Tanz dauerte viel zu lang. Immer wieder sah sie Eliza mit Ryon Buchanan vorbeiziehen, graziös, geschmeidig und voller Elan. Beide trugen ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie nicht gerade angeregt miteinander plauderten. Ihre Füße hingegen schmerzten, denn Bonniers verstand vom Tanzen genauso wenig wie von allem anderen. Immerhin sprach er nicht, da er sich aufs Tanzen zu konzentrieren schien. Als die Musik endlich endete, bedankte sie sich kurzangebunden bei ihm. Sie entzog sich ihm, obwohl sie damit seinen Satz unterbrach, in welchem er sie gerade auf ein Glas Champagner hatte einladen wollen. Sie sah seinen irritierten Blick, als sie ihre Röcke raffte und den Ausgang des Saals ansteuerte. Genaugenommen steuerte sie die Damentoilette an. Nicht etwa, weil sie sich frisch machen wollte, sondern weil es schlicht und ergreifend keinen anderen Ort gab, der sie vor Gerald Bonniers bewahren konnte. Keinen besseren Ort, an dem sie ihre Gedanken sortieren und nachsehen konnte, wie rot sie war. Dass sie rot war, bezweifelte sie keineswegs.
Die Toilette im Claridge’s war neben ihrer eigentlichen Funktion nicht nur eine überaus luxuriöse Rückzugsmöglichkeit, sondern auch ein viel besuchter Ort, an dem recht freizügig über dies und das gesprochen wurde. So auch in dem Moment, als sie diese betrat.
»… unverschämt!«
»Aber er hat.«
»Hm. Mit mir hätte er das nicht machen dürfen.«
»Ach, Marly, tu nicht so. Dir hätte das doch gefallen!«
»Nein, Julie. So etwas darfst du nicht sagen. Ich bin eine Dame.«
»Aber ja doch. Wir sind alle Damen.« Gelächter.
Sie blieb abrupt stehen. An den Waschbecken standen Mrs. Lovett, Mrs. Duprey und Mrs. Donut. Ihr eigenes Spiegelbild strahlte ihr zwischen beiden letzteren wie eine überreife Erdbeere entgegen. Das eben geführte Gespräch fand ein jähes Ende, als die Damen von ihr Notiz nahmen. Sie grüßte kurz und verschwand in einer der Kabinen. Gott, war sie rot! Das durfte einfach nicht wahr sein. Und über wen hatten die Damen wohl gesprochen? Sie hörte, wie eine Tür aufging.
»Habt ihr diesen Mann gesehen? Diesen … Indianer?«
»Das ist der Sohn von Helt Buchanan!«
Es war die Stimme von Cynthia Bonham. Natürlich!
»Mein Gott! Jetzt wissen wir, warum er nie etwas über seine Familie erzählt hat.«
»Ich weiß nicht …«
»Oh. Ich denke, das erklärt so einiges. Auch, warum er hier in London ein derart wildes Leben geführt hat. Ist ja kein Geheimnis. Wahrscheinlich hat er sich von ihr getrennt, weil er eingesehen hat, dass eine Verbindung mit einer Indianerin nicht gesellschaftstauglich ist.«
»Aber die Zeiten ändern sich.« Das war wieder Cynthia Bonhams Stimme, sie klang zögerlich.
»Cynthia. Indianer skalpieren Menschen. Im Häuten sind sie gut, sagt mein Mann.«
»Ich finde eigentlich, dass er zivilisiert aussieht.«
»Er muss sich anpassen. Etwas anderes bleibt ihm gar nicht übrig. Wie in England, so auf Erden.«
Alessa spürte, wie der Zorn ihre Halsschlagader anschwellen ließ.
»So etwas hat hier nichts zu suchen. So etwas gehört zurück zu seinesgleichen. Da hilft auch die beste englische Garderobe nichts. Als Mann hier mit einem Zopf aufzutreten, der bis zur Hüfte reicht, ist eine Provokation sondergleichen. Ich mache ja vielerlei Zugeständnisse bei diesem Ball, doch das geht entschieden zu weit. Aber was soll man da erwarten? Indianer denken nicht wie wir. Wenn sie überhaupt denken können. Sie sind primitiv wie Tiere. Leben von der Hand in den Mund. Sie sind ohne Reflexion, ohne Ziele, ohne Zukunft. Denn: Wenn es morgen keine Büffel mehr gibt, verhungern sie.«
Alessa stieß die Tür mit einem Schlag auf. Wutentbrannt trat sie hinaus. Die Frauen starrten sie entgeistert an. Eigentlich hatte sie den Frauen das Schlimmste entgegenschleudern wollen, was sie jemals würde sagen können. Aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Sie war in ihrem eigenen Körper gefangen. Nichts, rein gar nichts, brachte sie hervor. Sie stob einfach nur hinaus. Mit rasendem Herzen.
Sie konnte sich überhaupt nicht beruhigen. Das Gehörte wollte nicht aus ihrem Kopf, nicht aus ihrem Herzen. Immer wieder fragte sie sich, warum sie nichts gesagt hatte. Wieso war sie völlig tatenlos, wortlos an den Frauen vorbeigegangen? Es fehlte ihr doch sonst nicht an Mumm, Dinge auszusprechen, die ihr am Herzen lagen. Ohne nachzudenken hatte sie sich ein Glas Champagner geholt und binnen weniger Sekunden leer getrunken. Und sich gefragt, was sie selbst über Indianer wusste. Herzlich wenig. Gar nichts, im Grunde genommen. Alles, was sie wusste, war, dass Ryon Buchanan es nicht verdient hatte, dass man so über ihn sprach. Schließlich entschloss sie sich, alle Gedanken zu diesem Thema beiseite zu schieben, denn das hier war ihr Abend. Auf den sie sich seit Monaten gefreut hatte. Zum Teufel mit Merryl Vaughn & Co.!
Es war ein Glück, dass der weitere Abend, zumindest was das Tanzen betraf, nicht so verlief, wie er begonnen hatte. Die spanischen Offiziere erwiesen sich als überaus charmant und waren ausgezeichnete Tänzer. Sie flog mit ihnen regelrecht über die Tanzfläche und es gelang ihr sogar, ihre Gedanken auf John zu lenken. Das Orchester stimmte gerade ein langsames Stück an, als Alessa sich bei ihrem Tanzpartner entschuldigte, um ein wenig zu verschnaufen. Sie lehnte sich an eine der Säulen und betrachtete die Gäste, als ihr Blick an Ryon Buchanan hängen blieb. Er stand auf der gegenüberliegenden Seite des Saales bei Alexander Carlisle und diskutierte angeregt mit ihm. Wie gerne wäre sie an Carlisles Stelle und würde sich so lebhaft mit ihm unterhalten! Anderen Menschen gegenüber zeigte er sich aufmerksam und interessiert. Ihr gegenüber nicht. Warum war das so? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Ryon Buchanan ganz bewusst Eliza zum Tanz aufgefordert hatte statt ihrer. Er wollte nicht mit ihr tanzen! Sonst hätte er doch später die Gelegenheit ergreifen können sie aufzufordern – aber das hatte er nicht. Sah er vielleicht auf sie hinab, weil sie als Krankenschwester arbeitete?
Ryon gestikulierte energisch, während er sprach. Es war etwas Wildes, Ungezähmtes an ihm. Er hatte sich