Seine Schriften zur Wissenschaftslehre. Max WeberЧитать онлайн книгу.
Das gleiche gilt nun aber für die historischen Disziplinen. Richtig ist an den Ausführungen Münsterbergs über ihre Stellung alles, was sich auf die lediglich negative Bedeutung des nicht »Deutbaren« für die Geschichte bezieht. Erfahrungssätze der Psychopathologie und Gesetze der Psychophysik kommen für die Geschichte nur genau in dem gleichen Sinn in Betracht, wie physikalische, meteorologische, biologische Erkenntnisse. Das heißt: Es ist ganz und gar Frage des Einzelfalls, ob die Geschichte oder die Nationalökonomie von den feststehenden Ergebnissen einer psychophysischen Gesetzeswissenschaft Notiz zu nehmen Anlaß hat. Denn die zuweilen gehörte Behauptung, daß die »Psychologie« im allgemeinen oder eine erst zu schaffende besondere Art von Psychologie um deswillen für die Geschichte oder die Nationalökonomie ganz allgemein unentbehrliche »Grundwissenschaft« sein müsse, weil alle geschichtlichen und ökonomischen Vorgänge ein »psychisches« Stadium durchlaufen, durch ein solches »hindurchgehen« müßten, ist natürlich unhaltbar. Man müßte sonst, da alles »Handeln« heutiger Staatsmänner durch die Form des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, also durch Schallwellen und Tintentropfen usw. »hindurchgeht«, auch die Akustik und die Lehre von den tropfbaren Flüssigkeiten für unentbehrliche Grundwissenschaften der Geschichte halten. Die heute so populäre Meinung, es genüge, die »Bedeutung« bestimmter realer »Faktoren« für kausale Zusammenhänge des Kulturlebens aufzuweisen, um schleunigst eine spezielle Wissenschaft von diesen »Faktoren« zu gründen, übersieht, daß die erste Frage doch stets ist, ob in jenen »Faktoren« generell etwas Problematisches steckt, welches nur durch eine spezifische Methode gelöst werden kann. Wir wären vor vielen »... logien« bewahrt geblieben, wenn diese Frage regelmäßig auch nur aufgeworfen würde. – Es läßt sich – schon aus diesen Gründen – nicht einmal behaupten, daß die Geschichte a priori ein »näheres« Verhältnis zu irgendeiner Art von »Psychologie« haben müsse als zu anderen Disziplinen. Denn sie behandelt eben nicht den im Menschen durch gewisse »Reize« ausgelösten Innenvorgang um seiner selbst willen, sondern das Verhalten des Menschen zur »Welt«, in seinen »äußeren« Bedingungen und Wirkungen. Der »Standpunkt« ist dabei freilich stets ein in einem spezifischen Sinn »anthropozentrischer«. Wenn in der Geschichte Englands der schwarze Tod nicht in kausalem Regressus auf das Gebiet etwa der bakteriologischen Erkenntnis verfolgt, sondern als ein Ereignis gewissermaßen aus einer »außerhistorischen« Welt, als ein »Zufall« behandelt wird, so hat dies zunächst einfach seinen Grund in den »Kompositionsprinzipien«, denen auch jede wissenschaftliche Darstellung untersteht, ist also insoweit nicht erkenntnistheoretisch begründet. Denn eine »Geschichte des schwarzen Todes«, welche sorgsam die konkreten Bedingungen und den Verlauf der Epidemie auf Grund medizinischer Kenntnisse analysiert, ist natürlich sehr wohl möglich: – sie ist dann »Geschichte« im wirklichen Sinn des Wortes, wenn sie durch jene Kulturwerte, welche unsere Betrachtung einer Geschichte Englands in der betreffenden Zeit leiten, sich ebenfalls leiten läßt, wenn also ihr Erkenntniszweck nicht ist: Gesetze z.B. der Bakteriologie zu finden, sondern kulturhistorische »Tatsachen« kausal zu erklären. Das bedeutet nun, infolge des begrifflichen Wesens der »Kultur«, stets, daß sie darin gipfelt, uns zur Erkenntnis eines Zusammenhanges hinzuleiten, in welchen verständliches menschliches Handeln oder, allgemeiner, »Verhalten« eingeschaltet und als beeinflußt gedacht ist, da hieran sich das »historische« Interesse heftet.
Eine psychologische Begriffsbildung, welche im Interesse der »Exaktheit« unter die Grenze des »Noëtischen« herunter auf irgendwelche nicht in der empirisch gegebenen Psyche verstehend »nacherlebbare« Elemente griffe, würde für die Geschichte ganz in die gleiche Stellung rücken, wie das nomologische Wissen irgendeiner anderen Naturwissenschaft oder wie – nach der anderen Seite – irgendeine Reihe nicht verständlich deutbarer statistischer Regelmäßigkeiten. Soweit psychologische Begriffe und Regeln oder statistische Zahlen der »Deutung« nicht zugänglich sind, stellen sie Wahrheiten dar, welche von der Geschichte als »gegeben« hingenommen werden, die aber zur Befriedigung des spezifisch »historischen Interesses« nichts beitragen.
Die Verknüpfung des historischen Interesses mit der »Deutbarkeit« bleibt also als das eigentlich zu Analysierende immer wieder allein zurück.
Münsterberg trägt in die Erörterung der Bedeutung dieses Umstandes erhebliche Unklarheiten hinein. Es verwirrt sich sein Gedankengang auf das Bedenklichste namentlich dadurch, daß, um die Kluft zwischen »objektivierender« und »subjektivierender« Betrachtungsweise möglichst weit aufzureißen, bei ihm Erkenntniskategorien und Begriffe sehr heterogener Art miteinander teils terminologisch, teils sachlich verquickt werden. Es bleibt bei seinen verschiedenen Aufstellungen über jene Erkenntniskategorie zunächst unklar, inwieweit das Wortpaar »Verstehen und Bewerten« (Münsterbergs Bezeichnung der »natürlichen Betrachtung des Geisteslebens«130) eine einheitliche, oder zwei an sich verschiedene, wenn auch bei der »subjektivierenden« Betrachtungsweise in steter Gemeinschaft miteinander auftretende Formen des »subjektivierenden« Sich-Verhaltens zum »Geistesleben« bedeuten sollen. Sicher und von Münsterberg nicht bestritten ist, daß das »Bewerten« von seiten des »stellungnehmenden Subjektes« auch an nicht »geistigen«, also nicht »verstehbaren« Dingen vollzogen wird. Die Frage bleibt also, inwieweit auch ein subjektivierendes »Verstehen« – von »geistigem« Leben – ohne »Bewerten« möglich ist. Die bejahende Beantwortung könnte zweifellos erscheinen, da Münsterberg ja »normative« und »historische« subjektivierende Wissenschaften unterscheidet. Alles wird aber wieder zweifelhaft angesichts der Tatsache, daß die Tabelle der Wissenschaftsystematik, welche Münsterberg seinem Buche nachgesendet hat131, die Mutter aller »exakten« Wissenschaften: die Philologie, restlos den objektivierenden Wissenschaften zuweist, obwohl der Philologe ohne allen Zweifel (nicht nur, aber auch und in hervorragendem Maße) deutend verfährt und nicht nur bei Konjekturen – die Münsterberg vielleicht als »Teilarbeit« der Literatur-, also Kulturgeschichte ansprechen würde –, sondern ebenso bei jeder nicht rein klassifizierenden Arbeit der Grammatik ausschließlich, und – obwohl dies den »Grenzfall« darstellt – sogar bei der Lautwandellehre doch auch132 sich an das »nacherlebende Verstehen« wenden muß. Es scheint daher, als ob es auch »deutendes« wissenschaftliches Arbeiten gebe, welches dennoch »objektivierenden« Disziplinen angehört, weil es nicht »wertet«. Es spielen aber bei Münsterberg überhaupt heterogene Gesichtspunkte in das Problem hinein. Entscheidend tritt dies darin zutage, daß er das »Verstehen«, das »Einleben«, »Würdigen« und »Einfühlen« der »subjektivierenden Wissenschaften« mit »teleologischem Denken« identifiziert133.
Nun kann man ja unter »teleologischem Denken« sehr Verschiedenes verstehen. Nehmen wir zunächst an, es handle sich um die Deutung von Vorgängen aus ihrem Zweck. Dann ist sicher – und wir werden es noch näher erörtern –, daß das »teleologische Denken« einen engeren Umkreis deckt als unsere Fähigkeit des »subjektivierenden Einlebens« und »Verstehens«. Anderseits erstreckt sich teleologisches »Denken« in diesem Sinn keineswegs nur auf »Geistesleben« oder menschliches Handeln, sondern ist in allen Wissenschaften, welche mit »Organismen« – z.B. Pflanzen – zu tun haben, zum mindesten als eine höchst wichtige »Durchgangsstufe« anzutreffen. Endlich schließen die Kategorien »Zweck« und »Mittel«, ohne welche es teleologisches »Denken« überhaupt nicht gibt, sobald mit ihrer Hilfe wissenschaftlich operiert wird, gedanklich geformtes nomologisches Wissen, d.h. also: Begriffe und Regeln, an der Hand der Kausalitätskategorie entwickelt, ein. Denn es gibt zwar kausale Verknüpfung ohne Teleologie, aber keine teleologischen Begriffe ohne Kausalregeln134. – Würde unter »teleologischem Denken« dagegen lediglich die Gliederung des Stoffs durch Wertbeziehungen, also die »teleologische Begriffsbildung« oder das Prinzip der »teleologischen Dependenz« gemeint sein, in dem Sinne, in welchem Rickert und nach ihm andere diese Begriffe verwenden135, so hätte dies natürlich weder mit einem »Ersatz« der Kausalität durch irgendwelche »Teleologie«, noch mit einem Gegensatz zur »objektivierenden« Methode irgend etwas zu tun, da es sich hier lediglich um ein Prinzip der Auswahl des für die Begriffsbildung Wesentlichen durch Beziehung auf Werte handelt, die »Objektivierung« und Analysis der Wirklichkeit