Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
Dirk Holzmann schlief mit seinem Söhnchen im Arm nicht so tief. Er lauschte immer wieder auf den Atem des Kindes, er dachte an seine Penny und schickte flehende Bitten zum Himmel, dass auch sie ihm erhalten bleiben möge. Diesen Schock würde er lange nicht vergessen.
Vielen Menschen erging es ebenso, andere weinten in der Hoffnungslosigkeit, geliebte Menschen verloren zu haben.
In ihrem Bett im Zimmer vierzehn der Behnisch-Klinik erwachte eine junge Frau aus der Bewusstlosigkeit. Sie erinnerte sich nicht daran, was mit dem Bus geschehen war, in dem sie gesessen hatte. Sie erinnerte sich an etwas anderes, das ihre Seele zerquälte.
Sie läutete an einer Haustür. Sie sah eine hagere Frau vor sich stehen.
»Du? Was willst du hier?«, gellte eine schrille Stimme in ihren Ohren.
»Ich komme heim, Mutter.«
»Sag nicht Mutter zu mir. Geh dahin, wohin du gehörst. Dieses Haus betrittst du nicht mehr. Es ist mein Haus.«
Mein Haus, mein Haus, mein Haus, wie oft hatte sie das gehört.
»Ich will zu meinem Kind«, hatte sie gesagt.
»Tobias ist nicht da.«
»Wo ist er? Sei nicht unbarmherzig. Ich habe doch nichts getan.«
»Du bist verrückt. Bist du ausgerissen? Man hat dich doch nicht freiwillig gehen lassen.«
»Wo ist Toby, wo ist Bert?«
»Ich rufe die Polizei, wenn du nicht verschwindest. Ich lasse dich zurückbringen. Du bist gemeingefährlich. Lass meinen Sohn in Ruhe. Das Kind bekommst du nicht mehr zurück.« Und dann war die Tür zugefallen.
Zitternd, schweißgebadet lag sie nun in einem Bett und wusste nicht, was zwischen gestern und heute geschehen war.
»Ich bin nicht wahnsinnig«, sagte sie vor sich hin, laut und deutlich, nicht ahnend, dass jemand es hörte. »Nein, ich bin nicht wahnsinnig. Sie will es. Aber ich will mein Kind haben, mein Kind. Es gehört mir. Bert kann es doch nicht wollen, dass ich auch dieses Kind verliere.«
Eine weiche, behutsame Hand legte sich auf ihren Arm. Ein Gesicht beugte sich über sie.
»Brauchen Sie etwas?«, fragte eine sanfte Stimme.
»Nein, habe ich etwas gesagt?«
»Nein«, erwiderte die Stimme.
»Ich habe geträumt. Wo bin ich?«
»In der Behnisch-Klinik. Erinnern Sie sich an den Unfall? Waren Sie im Zug oder im Bus?«
»Im Bus. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Ich möchte Toby holen. Wo ist Toby?«
Jenny Lenz dachte vieles. Die Patientin zeigte so merkwürdige Reaktionen, dass sie nicht an Fieberphantasien glauben konnte.
»War Toby bei Ihnen?«, fragte sie.
»Nein. Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Und wir wissen bis jetzt nicht Ihren Namen. Wir werden Toby holen, wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse sagen.«
Die junge Frau richtete sich auf. Starr waren ihre Augen auf Jenny gerichtet.
»Ich kenne Sie nicht. Hat sie mich wieder zurückbringen lassen? Sind Sie neu?«
Jennys Gedanken überstürzten sich. »Sie sind in der Behnisch-Klinik«, wiederholte sie noch einmal betont. »Ich bin Dr. Jenny Lenz. Sie wurden hier nach einem Unfall eingeliefert. Aber ich kann Ihren Toby nicht holen, wenn Sie mir Ihren Namen nicht sagen.«
Die blassen Lippen der jungen Frau zuckten. »Sie sagt, dass ich verrückt bin. Sie will mich aus dem Hause haben. Sie hat uns auseinandergebracht. Ich bin nicht verrückt. Ich kann nichts dafür, dass das Kind nicht gelebt hat, mein kleines Mädchen. Mein armes kleines Mädchen.«
Würde sie noch mehr sagen? Jenny wollte jetzt kein noch größeres Risiko eingehen. Es war schon möglich, dass der Schock den Geist dieser jungen Frau verwirrt hatten. Sie gab ihr eine Spritze. Die Kranke spürte es kaum. Schwer atmend lag sie in den Kissen.
»Ich heiße Birgit Blohm«, flüsterte sie. »Meine Schwiegermutter sagt, dass ich verrückt bin.«
Monoton leierte sie es herunter, schon im Einschlafen begriffen. Aus ihren Augenwinkeln hatten sich Tränen gelöst. Sanft wurden diese von Jenny in überströmendem Mitleid abgetupft.
Sie konnte jetzt nicht beurteilen, ob und wie weit der Geist dieser jungen Frau verwirrt war, aber sie war überzeugt, dass sie Schreckliches erlebt hatte, was mit dem Unfall nichts zu tun hatte. Sie war ein Mensch, dem man helfen musste!
Später, als sie in ihrem Zimmer saß, rief sie sich noch einmal alles in die Erinnerung zurück, was die junge Frau gesagt hatte, und sie machte sich Notizen. Sie wollte Dr. Behnisch jetzt nicht wecken, so gern sie auch mit ihm darüber gesprochen hätte, aber morgen, nein, heute war es schon, standen zwei Operationen auf dem Plan. Er brauchte seine Ruhe nach diesem schrecklichen, turbulenten Tag.
Dr. Jenny Lenz dachte nicht daran, dass auch sie eine Nachtruhe nötig gehabt hätte. Sie war wieder einmal eisern und zuverlässig wie immer, und doch mehr bewegt als sonst von einem menschlichen Schicksal, das in rätselhaftem Dunkel lag.
*
Bevor für Dr. Norden der Arbeitstag begann, rief er Fee an. Er musste ihr erzählen, dass bei allem Unglück nun doch noch ein Hauch von Glück zu ahnen war. Sie erkundigte sich sogleich, was nun mit der anderen jungen Frau wäre.
»Du musst dich darum kümmern, Dan«, sagte sie. »Wenn wir ihr helfen können, schick sie uns.«
Ja, wenn man helfen könnte! Er rief in der Behnisch-Klinik an. Dieter war schon im OP, Jenny sollte nach dem langen Nachtdienst nicht gestört werden.
Dieter schafft das auch nicht, dachte Daniel besorgt. Verlassen kann er sich tatsächlich nur auf Jenny.
Er fuhr hinunter in die Praxis. Dort musste er auch Molly Bericht erstatten. Helga Moll, die selbst Mutter von drei Kindern war, fühlte mit allen Müttern. Kaum einer der Patienten sprach nicht von dem Unglück. Das legte sich bei Molly ebenso aufs Gemüt wie bei Daniel. Aber die Arbeit musste doch getan werden.
Daniel fuhr am frühen Nachmittag zur Behnisch-Klinik. Dr. Jenny Lenz war schon wieder auf ihrem Posten, und man sah ihr die durchwachte Nacht nicht an.
Dr. Behnisch hatte Neuigkeiten aus dem Kreiskrankenhaus. »Ich habe von dem Chef vielleicht was zu hören bekommen. Ihm die Patienten wegstehlen und so. Er fühlt sich wie der liebe Gott persönlich, aber vor dem Regierungsdirektor Holzmann hat er dann doch kapituliert. Morgen wird Frau Holzmann hierher verlegt. Aber Dr. Dahm hat auch eine Abreibung bekommen.«
»Daran bin ich wohl schuld«, sagte Daniel. »Das wäre doch eigentlich ein Arzt für dich, Dieter. Ordentlicher Bursche. Kann auch was.«
»Eine Karriere ist bei mir aber nicht drin, das weißt du doch.«
»Und dort ist er Ausputzer. Er ist zu sensibel, um sich durchzusetzen.«
»Man kann ja mal mit ihm reden.«
»Habt ihr etwas über die Verletzte erfahren?«, fragte Daniel.
»Sie sagt, sie heiße Birgit Blohm. Viel mehr wissen wir noch nicht. Sprich mal mit Jenny. Sie hat aufgeschrieben, was sie phantasiert hat. Jenny misst dem einige Bedeutung bei. Du weißt ja, wie die Frauen sind. Sie reimen sich schnell was zusammen. Jenny mach da keine Ausnahme.«
Daniel sprach mit Jenny. »Ich habe schon sämliche Blohms in München angerufen, aber niemand vermisst eine Birgit. Man hört ganz schön dumme Antworten, Daniel.«
»Kannst du sie nicht fragen, wo sie wohnt?«
»Sie ist wieder ganz verschlossen. Wahrscheinlich erinnert sie sich nicht daran, was sie gesagt hat. Als ich sie mit ihrem Namen ansprach, geriet sie in panische Angst. Ich habe mir schon alles Mögliche durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht kommt sie