Im Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
während Sabine sich bemühte, den Vater des Jungen zu beruhigen.
Lisa war mit Jill zu ihren Eltern gegangen, da das gemütliche Beisammensein so jäh zerstört worden war. Michael hatte mit ihr spazieren gehen wollen, aber sie hatte verneint und ihm bedeutet, dass sie ihre Eltern nicht kränken könne. So ging er allein.
Die Standuhr im Wohnzimmer der Thewalds schlug viermal, als Lisa und Jill eintraten. Sie wurden von den Neumann-Kindern umringt, und nach wenigen Minuten wichen die Hemmungen bei Jill. Die Kinder weihten sie in das Würfelspiel ein, das sie gerade begonnen hatten.
Herr Thewald erklärte, dass er zu den Gewächshäusern wollte, und Lisa folgte ihrer Mutter in die Küche. Es war nicht zu leugnen, dass es anders war als früher. Etwas Unerklärliches stand zwischen ihnen.
»Hat es dir gefallen in Frankreich?«, fragte Lotte Thewald gepresst.
Lisa nickte, gab ihr aber auch zu verstehen, dass sie gern wieder hier sei.
»Bleibt Herr von Jostin auch länger?«, fragte Lotte Thewald forschend, und sie bemerkte, dass Lisa verwirrt war. »Das Kind soll auch hierbleiben?«, fragte sie rasch weiter. Sie las von Lisas Lippen die Bestätigung und fuhr fort: »Wir haben uns entschlossen, Schorsch, Marilli und Frieder zu adoptieren. Es sind sehr liebe Kinder. Du darfst nun aber nicht denken, dass wir dich weniger lieb haben.«
Lisa legte den Arm um sie und küsste sie auf die Wange.
»Du heißt es also gut«, sagte Lotte Thewald erleichtert. »Es ist hier nun alles anders geworden. Es wird viel Arbeit geben, auch für dich.«
Da fiel ein Schuss. Lisa schrak zusammen und begann zu zittern.
»Man gewöhnt sich daran«, erklärte Lotte Thewald bitter. »Ich werde nach den Kindern sehen, dass sie nicht hinauslaufen.«
Jill hatte aufgehorcht. »Was war das?«, fragte sie.
»Da schießt einer«, erwiderte Schorsch.
»Ein böser Mann schießt Rehlein«, warf Frieder ein.
»Und heute ist Sonntag«, flüsterte Marilli.
Schorsch wollte hinauslaufen, aber da kam schon Lotte Thewald.
»Ihr bleibt hier!«, sagte sie. »Das ist nicht unsere Sache.«
»Ich will zu Lisa«, wisperte Jill.
Aber Lisa war nicht mehr in der Küche und auch nicht im Haus. Dafür erschien Leo Thewald.
»Wohin ist denn Lisa gelaufen?«, fragte er. »Ich habe sie gerade noch gesehen.«
»Warum hast du sie nicht zurückgehalten?«
Lotte Thewald packte ihren Mann am Arm. Er schob sie in die Diele.
»Der Graf ist auch draußen«, brummte er. »Zwischen den beiden ist was, das fühlt man doch.«
Seine Frau starrte ihn betroffen an. »Du meinst, sie treffen sich?«, fragte sie tonlos. »Hast du denn den Schuss nicht gehört?«
»Da hör’ ich schon gar nicht mehr hin. Mir klang es wie ein Auspuff. Es fahren jetzt viele Leute vorbei. Mich beschäftigt mehr, dass das Kind sich nicht unglücklich macht.«
»Lisa ist kein Kind mehr«, sagte Lotte Thewald.
»Es wird sich nichts ändern«, entgegnete der Mann. »Es kann ihr ja doch niemand helfen.«
*
Lisa hatte vorhin gesehen, dass Michael in den Wald gegangen war. Nun wurde sie von seltsamen Vorstellungen gepeinigt, von Ahnungen, wie sie sie manchmal quälten. So auch an jenem Tag, als der Autobus verunglückt war.
Sie hatte sich den Umhang umgeworfen und knöpfte ihn im schnellen Lauf mit bebenden Fingern zu. Immer wieder formten ihre Lippen einen Namen: Michael! Aber sie konnte ihn nicht laut rufen.
Sie lief an der Mauer entlang, die für sie viele Jahre das Ende der Welt bedeutet hatte. Die Mauer war so hoch, dass sie nicht darüberblicken konnte, und dort, wo sie aufhörte, war so dichtes Gebüsch, dass man sich nicht hindurchzwängen konnte.
Nun stand sie davor und sah mit schreckgeweiteten Augen, dass sich hier doch jemand einen Weg gebahnt haben musste. Die morschen Zweige waren gebrochen, Füße hatten sie niedergetreten.
Sekundenlang verharrte sie so. Da vernahm sie ein schmerzvolles Stöhnen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, die Angst in ihr wuchs riesengroß. Aber dennoch bahnte auch sie sich den Weg von einem unerklärlichen fremden Willen getrieben.
Noch einmal klang das gequälte Stöhnen an ihr Ohr, ganz nahe, und da sah sie ausgestreckt zwischen den Bäumen Michael liegen.
Sie taumelte vorwärts, kniete bei ihm nieder, sah mit tränenblinden Augen das Blut, das aus einer Wunde an der Brust sickerte.
Wahnsinnige Angst hielt sie gepackt, und ihre Gedanken überstürzten sich. Sie konnte ihn doch nicht allein lassen. Vielleicht lauerte dieser Mörder noch im Hinterhalt.
Sie hatte nicht Angst um sich, sondern nur um Michael, und da brach ein gellender Schrei aus ihrer Kehle, ein Schrei, den sie selbst nicht begriff und der doch weithin hallte.
Sie wusste nicht, dass sie diesen Schrei ausgestoßen hatte und dass sie nun immer wieder schrie: »Hilfe, Hilfe! Michael verblutet!«
*
Sabine hatte Herrn Grandel zur Tür begleitet. Endlich hatte er sich mit dem Trost, dass sein kleiner Sohn nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, dazu bewegen lassen, heimzufahren.
Sie hatte noch ein paar Minuten frische Luft geschöpft, als plötzlich dieser Hilfeschrei an ihr Ohr tönte. Da kam auch schon Leo Thewald aus dem Verwalterhaus gelaufen, gefolgt von seiner Frau.
»Michael …, da hat jemand Michael gerufen«, stammelte Sabine. »Wer ruft …«
Leo Thewald lief schon in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.
Mechanisch folgte ihm Sabine. Und dann, Minuten später, nahm sie fassungslos das Bild in sich auf, das sich ihren Augen bot. Sie begriff als Erste, dass Lisa immer wieder rief: »Michael! Michael!«
Es war so unfassbar, dass sie später nicht mehr zu sagen wusste, was sie mehr erschüttert hatte: Ihr verwundeter Bruder oder das verzweifelte Mädchen, dessen Hände auf Michaels Brust lagen und von seinem Blut rot gefärbt waren.
Nicolas und André kamen, von Frau Thewald alarmiert, mit der Tragbahre. Leo Thewald hatte die Büsche niedergestampft und den Weg freigemacht.
Jäh war Lisa wieder verstummt, und erst als Michael auf die Tragbahre gebettet worden war, sagte sie: »Er darf nicht sterben! Nicolas, Michael darf nicht sterben!«
Da begriffen sie alle, dass dieser Schock Lisa die Sprache wiedergegeben hatte.
Sabine legte ihren Arm um das bebende Mädchen.
»Komm, Lisa«, bat sie erschüttert, »sei ganz ruhig! Nicolas wird ihm helfen.«
»Rede mit ihr. Sie muss jetzt reden, nur reden«, erkärte Nicolas. »Du kannst sprechen, Lisa! Du musst alles sagen!«
Lisas Hand fuhr zur Kehle.
»Ich kann reden«, sagte sie stockend, und dann ging sie wie eine Traumwandlerin neben Sabine hinter den Männern her, die Michael zur Klinik trugen.
*
Sabine zwang Lisa zum Reden, wie Nicolas es befohlen hatte. Ja, es war ein Befehl gewesen. Er hatte die Nerven nicht verloren.
Lisa befand sich jetzt in einer maßlosen Erregung, aber weder Nicolas noch André konnten sich um sie kümmern.
Für Lotte und Leo Thewald war der Schock, nun plötzlich Lisas Stimme zu vernehmen, noch größer als Michaels schwere Verwundung.
Niemals hatten sie das Kind sprechen hören, und was alles hatten sie in vielen – genau in siebzehn Jahren – getan, um das zu erleben, um dem Kind, das als hilfloses kleines Mädchen zu ihnen