Anstandsfesseln. Carrie FoxЧитать онлайн книгу.
Manchmal dachte Vanessa, Viola sei nicht ihre Zwillingschwester, sondern stammte von anderen Eltern. Und doch war es so … Sie konnten es beide fühlen. Die tiefe Verbundenheit, das Spüren, wenn die Andere nicht gut drauf war. Wenn Eine krank war, fühlte sich auch die Andere nicht gut und oft hatten sie den gleichen Gedanken zur selben Zeit. Leider war Viola kein Kerl, den man heiraten und liebhaben konnte. So wie Ingo. Früher hatte er diese Fähigkeit auch gehabt, zu spüren, wenn es ihr nicht gut ging, aber das war mindestens so lange her, wie der Urlaub.
Vielleicht würde eine Veränderung der Wohnung auch eine Veränderung in ihren Wahrnehmungen bedeuten und sie könnte mit Ingo wieder glücklich werden. Doch genug von vergangenen Zeiten geträumt. Vanessa sah sich im Flur um. Wie der überhaupt aussah! Das Regal neben dem Spiegel war verkratzt, weil Ingo immer seinen Schlüsselbund dort hin warf. Es war eine Unart von ihm, seine Schlüssel dort hinzuschmeißen. Immer wieder ärgerte sie sich darüber. Doch jetzt konnte er sie ordentlich aufhängen, damit es aufgeräumt aussah. Das Schlüsselbrettchen passte perfekt in den Flur. Es war nicht zu groß, aber unübersehbar. Seine weiß lackierte Oberfläche harmonierte mit der weißen Haustür und der lindgrünen Wandfarbe. Die Chromhaken passten gut zur Deckenlampe, die in hellem Silber strahlte. Am liebsten würde Vanessa noch einen neuen Schuhabstreifer kaufen und einen modernen, schmalen Schuhschrank in Weißlack. Warum eigentlich nicht? Der Flur hatte, seit sie hier eingezogen waren, nichts Frisches mehr an Einrichtungsgegenständen gesehen. Wenn sie genau hinsah, konnte sie die abgewetzten Stellen an der Wand erkennen, wo ihre Schuhe standen und wo Ingo und sie die Jacken und Mäntel hingehängt hatten. Die Wand sah abgenutzt aus. Sie müsste gestrichen werden. Eine neue Garderobe wäre auch nicht schlecht. Vielleicht mit einer ebenso weißglänzenden Oberfläche. In Gedanken malte sie sich einen hübschen Eingangsbereich aus, mit einer anderen Farbe und einem neuen Design. Sie wollte, dass die Dinge farblich gut aufeinander abgestimmt und ausgewählt wurden. Die Bilder ließen sich bei dieser Gelegenheit bestimmt in einen passenderen Rahmen bringen. Neues zu schaffen gäbe ihr mit Sicherheit ein gutes Gefühl. Eins, dass sie glauben ließe, dass es ihr gehörte. Ihr allein, denn sie hatte es entworfen und eingerichtet. Was Ingo wohl dazu sagen würde? Zustimmen oder meckern? Bisher hatte er ihr eine freie Hand gelassen, wenn es darum ging, den Haushalt zu führen und hier und da einen Gegenstand zu kaufen. Aber diesmal ging es um etwas Größeres. Freute er sich über eine kleine Veränderung? Oder lehnte er es ab? Vielleicht war es ihm egal, weil er sowieso keine Zeit für sein Zuhause hatte? Leider würde es nichts daran ändern, dass er die Zeit nicht mehr aufbrachte, es könnte jedoch wenigstens seine Stimmung aufhellen. In letzter Zeit sah er abgespannt und bedrückt aus. Ach, wenn er doch mit aussuchen könnte, was die Möbel anging. Früher waren sie oft shoppen gegangen und hatten gemeinsam Sachen ausgesucht. Sehnsuchtsvoll dachte Vanessa an die Zeit zurück, in der sie zusammen gezogen waren und alles miteinander gekauft hatten. Aber heute war alles ganz anders.
Sie seufzte und beschloss trotzdem den Flur in einem leichten, sonnigen und freundlichen Gelb zu streichen. Es würde einen sommerlichen Flair in den Flur bringen und schlechte Launen vertreiben.
Den Haushalt hatte sie für heute erledigt. Bis Ingo nach Hause käme, hatte sie noch genügend Zeit, sich in einem Einrichtungshaus umzusehen. Sie wollte nicht bis morgen warten und musste ihre sprudelnden Ideen in ihrem Kopf ausschöpfen und zu realisieren versuchen. Im Möbelgeschäft gäbe es sicher tausend Möglichkeiten … Sie stieg in ihre Sportschuhe, schwang ihre dünne Sommerjacke über die Schultern und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Nicht, dass sich noch Bohrstaub in ihrem Gesicht befände. Nein, sie hatte sauber gearbeitet, in ihren blonden Haaren fand sich kein Stäubchen. Sie fuhr mit der linken Hand dem Scheitel entgegen gesetzt durch das Haar und schüttelte ihre Frisur auf, so dass die langen, blonden Haare schön über ihre Schultern fielen. Sie griff nach ihren Schlüsseln, nahm den Geldbeutel an sich und verschwand durch die Haustür.
»Mareike, bringen Sie mir bitte die Akte Greiner gegen Autohaus Ballhoff.« Ingo hielt den Zeigefinger auf die Taste der veralteten Sprechanlage, die ihn mit der Dame im Vorzimmer verband.
»Ist sie beziffert?«, kam prompt die Antwort.
»Nein, ich hatte keine Zeit, Sie müssen nach dem Namen suchen.«
»Ach, Herr Hohenstein! Sie sollten sich angewöhnen, fortlaufende Nummern für ihre Fälle auf die Ordner zu schreiben.«
»Jaja, Sorry, das habe ich nicht mehr geschafft.«
Ingo wandte sich erneut seiner Arbeit am PC zu. Er musste noch mehrere Anschreiben erledigen und einige wichtige Dokumente ausdrucken. Kurze Zeit später klopfte es, die Tür ging auf und Mareike trat mit einem dicken Leitzordner ins Büro. Sie schob den Anrufbeantworter beiseite und legte die Akte auf einen Beistelltisch.
»Herr Hohenstein, Sie haben ja immer noch keinen Platz gemacht.« Sie verzog den Mund und schüttelte leicht den Kopf. Anscheinend verstand sie nicht, dass Ingo zu viel anderes zu tun hatte, als auch noch seinen Schreibtisch aufzuräumen.
»Danke, Mareike«, antwortete er kurz und knapp zurück und machte eine wedelnde Handbewegung. »Sie können gehen.«
»Tsss«, hörte er sie zischeln, bevor sie die Bürotür hinter sich schloss.
Sie hatte ja Recht, aber Ingo konnte kaum noch dagegen ankommen. Jeglicher Papierkram stapelte sich mit der Zeit zu einem unordentlichen Haufen, so dass auf dem Schreibtisch keine Ablagemöglichkeit mehr war. Mitunter suchte er Dinge, die er selbst nach dem Umschichten der Stapel nicht mehr fand. Ja, er war schlampig geworden in letzter Zeit. Mit der gestrigen Post kam ein Antrag auf Verteidigung wegen eines Schadens an einem Sportauto. Es gab keine Verletzten. Er schüttelte missbilligend den Kopf. Kleinigkeiten wie diese machten die meiste Arbeit. Akten. Gespräche. Gerichtstermine. Botenfahrten. Der Stress ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Wie schön wäre es, wenn er sich am Wochenende ausruhen könnte, wie andere Leute es auch taten. Wie gern würde er mit Vanessa etwas Schönes unternehmen. Doch sein Arbeitspensum ließ ihm keine Ruhe. Er nahm wöchentlich viel Arbeit mit nach Hause, die er nicht aufschieben konnte.
Ingo seufzte und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Er betrachtete den Fotorahmen mit dem Bild seiner Frau. Vanessa… Ihr schönes, langes Haar umrahmte ihr Gesicht. Auf dem Foto sah sie über die rechte Schulter, schien ihr Kinn darauf abgestützt zu haben und die blonden Haare fügten sich der Körperdrehung, lagen harmonisch in einem geschwungenen Bogen über der Schulter. Ihre wunderschönen Augen sahen ihn direkt an. Der Hintergrund war schwarz, sodass ihr Gesicht, die goldenen Haare und die strahlend blauen Augen besonders gut zur Geltung kamen. Sie hatte ihm das rot gerahmte Foto zu ihrem gemeinsamen ersten Hochzeitstag geschenkt und nun stand es auf seinem Bürotisch. So hatte er seine Frau immer im Blick. Er lächelte das Bild an, nahm es, streichelte leicht über das Gesicht hinter der Glasscheibe und setzte einen angedeuteten Kuss darauf.
Viola schleuderte ihren kastanienbraunen Wuschelkopf im Takt der Musik hoch und runter. Sie tanzte durch ihr Wohnzimmer und jauchzte voller Lebensfreude.
»Ach wie schön ist es, frei und ungebunden zu sein. Ich kann tun was ich will. Niemand fragt, warum ich gehe und wie lange ich weg bleibe. Und das Beste ist, dass keiner wissen will, wohin ich gehe«, sagte sie zu sich und grinste schelmisch. Sie hatte neongrünen Kopfhörer auf und stellte die Musik lauter. Ihr Lieblingssong erklang. Sie tanzte zu den heißen Rhythmen. Niemand sah ihr beim Herumhopsen zu. Sie war allein und freute sich darüber, dass sie seit ein paar Monaten ohne festen Partner war. Ihre neu gewonnene Freiheit war das Beste, was ihr jemals passiert war und ein Grund zur Dauerfreude. Sie wollte sie genießen und viele verschiedene Männer kennen lernen. Ihre Charaktere erforschen, ihr Verhalten und natürlich wie sie im Bett waren. Sie wollte sich austoben und sich die Männer schnappen, die ihr gefielen. Die Welt stand ihr offen und sie beschloss, alles mitzunehmen, was sich ihr an Gelegenheit bot. Es mochte in den Augen anderer schlampig und sexistisch sein, doch Viola war das egal. Sie war ungebunden und plante, alles auskosten, ohne sich zu binden. Sie war der festen Meinung, sie als freie Frau dürfe das Spiel bis in die Unendlichkeit