Du darfst nicht sterben. Andrea NageleЧитать онлайн книгу.
Laken.
Ich schwebe an die Zimmerdecke.
Unter mir sehe ich waberndes Weiß. Unruhige Flächen aus wogenden Arztkitteln. Ein Kahler beugt sich über mein Bett. Finger spreizen sich, tanzen auf und ab, zerren an einem Stück Stoff. Etwas reißt. Knöpfe fliegen. Unter mir spielt ein lebhaftes Marionettentheater.
Noch halte ich die Fäden in der Hand.
Lautes Reden, das ich nicht verstehe, hallt zu mir empor.
Unser alter Kindergartenreim kreischt durch meinen pochenden Schädel: »An der Decke kleben, runterfallen, auf die Erde knallen, ja so ist das Leben!«
Mein Lachen quält sich als raues Stöhnen aus meiner Kehle.
Ein metallisch funkelndes Gerät wird an das Bett geschoben. Erstaunt sehe ich, wie mein Körper aus den Tüchern emporschnellt. Ein-, zwei-, dreimal. Immer wieder fliege ich durch die Luft. Das Tempo ist atemberaubend.
Ich stehe unter Strom.
Heiße Energie durchflutet mich, und ich schreie.
Da ist das bleiche Gesicht meiner Zwillingsschwester. So nah, so unendlich vertraut.
Anne beugt sich über mich und küsst meine Wangen. Ihre Tränen benetzen mein Gesicht und vermischen sich mit den meinen.
4
Das Brummen der Lastwagen lässt die halb gekippte Fensterscheibe vibrieren. Die Vorhänge wehen im Morgenwind.
Mit einem Satz springt Paul aus dem Bett. Auf dem Weg ins Bad hält er inne.
Während er unruhig geschlafen hat, muss es geregnet haben. Es riecht nach feuchter Erde.
Schwere Wolken bedecken den Himmel. Noch hat der Tag zu wenig Kraft, die Nacht zu verdrängen. Das Stück Straße, das er, angestrahlt vom Scheinwerferlicht vorbeihuschender Autos, erkennen kann, glänzt schwarz vor Nässe. Auf den mattgrünen Sträuchern glitzern Wassertropfen. Zu dieser frühen Stunde wirkt alles unverbraucht. Neu.
Die Erinnerung stürzt so heftig auf ihn ein, dass ihm die Luft wegbleibt.
Sein Plan, Lili zu finden und sie mit nach Hause zu nehmen, ist gescheitert. Die gelb markierten Orte auf seiner inneren Landkarte verblassen, lösen sich allmählich auf. Er hat die Orientierung verloren.
Anne ist tot.
Und Lili wird nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurückkehren. Die Polizei hat sicher bereits eine neue Bleibe für sie und ihre kleine Nichte gefunden.
Auf einmal erscheint ihm alles aussichtslos. Mit dem Handrücken wischt er sich den Schweiß vom Gesicht und streift die Feuchtigkeit am Oberschenkel ab. Kurz überlegt er, aufzugeben, sich zu stellen. Aber dann hätte er Lili für immer verloren.
Paul wirft einen nervösen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es ist bereits nach fünf Uhr am Morgen.
Ein unruhig flackerndes grünes Licht im Badezimmer zeigt an, dass der Akku wieder aufgeladen ist.
In der Nacht hatte er begonnen, seinen Bart mit Schere und Rasierer zu stutzen. Dabei muss er sich geschnitten haben. Neben seinem Ohr spürt er Schorf, und auf dem Kragen des T-Shirts sind zwei bräunliche Flecken.
Annes Blut war aus ihrem Hals geströmt und hatte innerhalb von Sekunden alles leuchtend rot eingefärbt.
Behutsam setzt er den Rasierer erneut an seine Wange.
Er mochte seinen rotbraunen Bart. Nur schweren Herzens trennt er sich von diesem perfekt getrimmten englischen Rasen. Etliche Jahre konnte er seine schmale Oberlippe damit verbergen, jetzt ist dieser Makel wieder für alle sichtbar.
Er beugt sich über das Waschbecken, den Porzellanrand gegen seine Leiste gedrückt, und begegnet seinen kaffeebohnenbraunen Augen. Seelenlos hatte Lili sie einmal genannt. »Dein Blick hat etwas Leeres. Es ist, als wäre deine Seele darin verloren gegangen.«
Sie hatte die unangenehme Angewohnheit, Menschen über ihre Augen ergründen zu wollen.
Als sich seine empfindliche Haut schließlich käsig und nackt über den Wangenknochen spannt, erkennt Paul sich kaum wieder. Nur die wenigen braunen Strähnen, die noch über die buschig wuchernden Augenbrauen fallen, erinnern ihn an sein früheres Ich. Aber auch die dürfen nicht bleiben. Die Veränderung muss radikal sein.
Mit einem zornigen Schnauben setzt er den Rasierer an seinen Schädel und fräst Bahn für Bahn frei, bis sich das Licht der Neonröhre auf seiner Kopfhaut spiegelt. Unter ihm auf dem Fliesenboden bauschen sich die Haare. Angewidert zieht er den Fuß zurück.
Kahl geschoren vom Kinn bis zum Hinterkopf, starrt ihm ein Fremder entgegen. Der da im Spiegel ist irgendwer. Austauschbar. So mag er sich nicht.
Rasch zieht Paul sich an, stopft seine restliche Kleidung in den Seesack und wirft ihn sich über die Schulter.
Nichts an seinem Äußeren erinnert mehr an den, der er gestern noch war. Trotzdem muss er vermeiden, von jemandem aus dem Motel gesehen zu werden.
Das neue Gesicht ist sein Kapital.
Langsam öffnet er die Tür und späht misstrauisch hinaus.
Die Schlagzeile der Zeitung auf seiner Fußmatte springt ihn förmlich an: »Mörderische Messerattacke«. Daneben ein Foto des Hauses, in dem er gestern nach Lili gesucht hat.
Paul zuckt zurück, dann ergreift er die Tageszeitung und hastet ohne nach links oder rechts zu schauen zu seinem Wagen.
Der gestohlene weiße Golf steht, wo er ihn gut verborgen abgestellt hat. Ein schaler Geruch empfängt ihn im Inneren des Fahrzeugs. Wahrscheinlich ist die Polsterung irgendwann nass geworden und modert vor sich hin.
Beim Starten zittern seine Finger. Fast von allein findet das Auto den Weg. Hin zum alten Wohnwagen, der, überwachsen von Farnen, sein Fluchtpunkt als Jugendlicher war und der ihn noch ein letztes Mal aufnehmen muss.
Was vorhin unklar und verwirrend war, erscheint ihm nun, im Tageslicht, wieder gestochen scharf.
Neben ihm rascheln die Seiten der Zeitung im Fahrtwind.
Als er den Golf auf einem riesigen Auffangparkplatz abstellt, atmet er auf. So schnell wird das Auto hier keiner finden. Er greift nach hinten und nimmt den Seesack von der Rückbank, die letzten Kilometer zu seinem Versteck will er zu Fuß gehen. Die Zeitung ist nach unten gerutscht und liegt nun aufgeschlagen auf dem Boden des Fahrzeugs.
»Nach einem brutalen Messerattentat schwebt das Opfer in Lebensgefahr. Nur dem raschen Einschreiten der Polizei ist es zu verdanken, dass die junge Frau nicht am Tatort verblutete. Sie und ihre Tochter konnten in Sicherheit gebracht werden. Nach dem Täter wird gefahndet.«
Lange Zeit sitzt Paul da und starrt auf die Sätze, bis die Buchstaben verschwimmen.
Anne lebt. Er ist nicht ihr Mörder.
Da steht es, und doch kann er es nicht glauben.
Paul senkt seine Stirn auf das Lenkrad. Es ist, als ströme neue Kraft in seinen Körper.
Eines ist ihm soeben klar geworden. Niemals wird Lili freiwillig zu ihm zurückkommen.
5
Hanna.
Ihre weichen Handflächen streicheln ungelenk über meine Gesichtshaut. Auf und ab. Hin und her. Die Berührungen erinnern mich an ein Peeling aus grobkörnigem Meersalz. Wenn es nur nicht so wehtäte.
»Mami?«
»Hanna, bitte setz dich. Wir müssen vorsichtig mit ihr umgehen.«
Vorsichtig?
Ich will unsere Namen aussprechen, doch meine Lippen fühlen sich an wie dick gewundene Seile aus Hanf.
Lili. Anne. Lilianne.
Zwei, die eins geworden sind.
Mit geschickten Fingern wird mein Nacken