Post mortem. Amalia ZeichnerinЧитать онлайн книгу.
Kinder, Kinder, die früh gestorben waren, Ehemänner und Söhne, die im Krieg gefallen waren, und einige andere. Pauline Westray hatte glänzende Aussichten auf eine Karriere als Sängerin gehabt, aber nun war ihre begnadete Stimme für immer verstummt.
»Ach, es ist jedes Mal so schwierig, sich um Todesfälle zu kümmern, wenn die Angehörigen nicht in der Stadt leben und man keine Adresse von ihnen hat«, sagte der Coroner mit gerunzelter Stirn.
»Warten Sie, vielleicht liefert uns ihre Tasche einen Hinweis.« Mabel lächelte gegen die Traurigkeit an, die wieder von ihr Besitz zu ergreifen drohte. »Frauen tragen für gewöhnlich recht viel mit sich herum – ich bilde da keine Ausnahme.« Sie öffnete die Handtasche der Verstorbenen und kramte darin herum, auch wenn ihr das unangenehm war. Es gehörte sich schließlich nicht, den Besitz anderer Leute zu durchwühlen. Aber in diesem Fall war es unumgänglich. Außer der Pralinenschachtel befand sich in der Handtasche eine kleine Geldbörse und ein zusammengefaltetes, spitzenbesetztes Taschentuch mit feinem Blumenmuster. Mabel kramte weiter. »Hm … hier ist eine Karte für ein Konzert in der Canterbury Music Hall in Lambeth – eine Operette von Jacques Offenbach. Das war vor zwei Wochen. Aber das hilft uns wohl nicht weiter.« Schließlich zog sie zwei handbeschriebene Visitenkarten der Verstorbenen und einen Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln heraus. »Ich vermute, das sind ihre Hausschlüssel.«
Doktor Tyner rückte seine Brille zurecht. »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Mrs Fox? Ich habe im Moment sehr viel zu tun. Es wäre mir eine große Erleichterung, wenn Sie später in der Wohnung der Verstorbenen nachsehen könnten, ob Sie dort einen Hinweis auf mögliche Angehörige finden. Vielleicht auch Briefe. Ich meine, Sie waren ja miteinander bekannt, da sollte es kein Problem darstellen, nehme ich an?«
»Wir kannten uns allerdings nicht näher«, gab Mabel zu bedenken. »Und was ist, wenn mich ihr Vermieter fragt, warum ich mir so ohne Weiteres Zugang zu ihrer Wohnung verschaffe? Er könnte mich des Diebstahls verdächtigen. Ich kenne ihn nicht und er weiß nicht, dass ich eine Bekannte von Miss Westray bin … war.«
Doktor Tyner winkte ab. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich setze Ihnen ein kurzes offizielles Schreiben auf, das mit einem Stempel der Metropolitan Police versehen ist. Entsprechend vorbereitetes Papier steht mir im Leichenschauhaus zur Verfügung. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt. Und wenn der Vermieter Ihnen dann immer noch Schwierigkeiten macht, schicken Sie ihn direkt zu mir.« Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach: »Wohnte sie in Pimlico?«
Mabel blickte auf eine der Visitenkarten. »Ja, in der Vauxhall Bridge Road. Das ist gar nicht weit entfernt von der Straße, in der Clarence und ich wohnen. Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann.«
Die Kutsche hielt vor dem Leichenschauhaus, ein verhältnismäßig großes Gebäude, das sich in derselben Straße wie das Belgravia Polizeirevier befand. Williams holte einen der anderen Mitarbeiter herbei. Gemeinsam schleppten sie die Trage mit dem Leichnam in das Innere des Gebäudes, während der Coroner und Mabel ihnen folgten. Der süßlich-faulige Geruch von Verwesung schlug ihr an der Tür zur Leichenhalle entgegen, vermischt mit dem von Karbolseife und verschiedenen Chemikalien.
Diese Ausdünstungen waren ihr doch vertraut. Warum wurde ihr davon heute übel? Mabel ignorierte ihren rebellierenden Magen und straffte sich, ehe sie die Leichenhalle betrat.
Acht Tische befanden sich darin, auf sechs von ihnen lag je ein Leichnam. Bis auf den, an dem John Gerston gerade arbeitete, waren alle mit Tüchern abgedeckt.
»Guten Tag, Mrs Fox«, begrüßte sie der junge Mann, ein Medizinstudent aus einem der höheren Semester, der hier arbeitete, wenn es seine Vorlesungen erlaubten. Sein Plan war es, sich später auf Gerichtsmedizin zu spezialisieren.
»Guten Tag, Mr Gerston«, erwiderte Mabel.
»Legen Sie den Leichnam dorthin«, verlangte Doktor Tyner mit einem Fingerzeig.
Williams und ein weiterer Kollege betteten die Leiche auf den gewünschten Tisch und rollten die Textiltrage zusammen.
Der Coroner bedankte sich und die beiden verließen den Raum.
John Gerston kam zu ihnen herüber und betrachtete Miss Westrays sterbliche Überreste. »Was für einen Fall haben Sie uns gebracht?«, erkundigte er sich bei Doktor Tyner.
»Tod durch Ersticken oder eine andere Ursache. Mrs Fox wird die Leiche untersuchen, Sie können mit dem Strangulierungsopfer fortfahren.«
»Wie Sie wünschen.« John Gerston durchquerte den Raum und beugte sich wieder über den Leichnam, an dem er zuletzt gearbeitet hatte und dessen Körper nackt und bleich auf der Bahre lag.
Doktor Tyner zog sich eine helle Jacke über, wie immer, wenn er Leichen obduzierte. »Falls Sie Fragen haben, Mrs Fox, sagen Sie mir Bescheid, ja?«
»Selbstredend, Doktor!« Mabel zog sich eine der Schürzen über, die an einem Garderobenhaken bereithingen und die sowohl ihr Oberteil als auch einen Großteil ihres Rocks bedeckte. Mit Schaudern dachte sie an die hygienischen Verhältnisse in den Lazaretten des Krimkrieges. Damals hatte es kaum Sicherheitsvorkehrungen gegeben. Medizinisches Besteck war nicht gereinigt worden und Chlorkalk, der der Desinfektion diente, hatte es noch nicht gegeben. Ganz zu schweigen davon, dass aufgrund der katastrophalen hygienischen Bedingungen mehr als tausend britische Soldaten an Cholera, Dysenterie und anderen Durchfallerkrankungen gestorben waren, bevor die Streitkräfte überhaupt zum Einsatz gekommen waren.
Der Gedanke an all das verstärkte ihre Übelkeit. Nicht daran denken. Das alles war ja auch schon mehr als zwanzig Jahre her und die heutige Zeit bot Anlass für Hoffnung: Seit damals hatte sich in der Medizin und der Krankenpflege vieles verändert. Sie selbst hatte eine ganze Menge dazugelernt, seit die Kinder aus dem Haus waren. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatte Doktor Tyner, der sich ebenfalls stetig weitergebildet hatte.
Mabel betrachtete das bleiche Gesicht von Miss Westrays Leichnam. Fast wollten ihr wieder die Tränen kommen, doch sie drängte sie zurück. Vielleicht konnte sie wenigstens herausfinden, woran die junge Frau gestorben war, oder zumindest bei einer entsprechenden Aufklärung mitwirken. Und sie würde nicht eher ruhen, bis die Todesursache feststand. Der Tod war unwiderruflich, aber er legte auch alles bloß – die ganze nackte Wahrheit über einen Menschen. Ein Leichnam konnte weder lügen noch sich verbergen oder ein Geheimnis hüten. Einem geschickten Mediziner war es gegeben, so manches an einer Leiche abzulesen. Auch wenn es zugegebenermaßen einiges gab, was der medizinischen Forschung bis heute ein Rätsel war, das wusste sie aus unzähligen Gesprächen mit dem Arzt und dem Medizinstudenten.
Ihr Blick wanderte zu Miss Westrays bleichem Leib. Der grässliche Geruch in der Halle und die Tatsache, dass hier eine Bekannte vor ihr lag, das beides trat allmählich in den Hintergrund. Stattdessen setzte Mabels Forscherdrang ein, eine Neugier, die ihr schon während ihrer Ausbildung als Krankenschwester innegewohnt hatte. Zu verstehen, wie der menschliche Körper aufgebaut war und wie er im Zusammenspiel all seiner Organe funktionierte, das hatte sie schon als Jugendliche fasziniert. Die Totenstarre begann fast immer an den Kaumuskeln. Mit spitzen Fingern tastete Mabel Miss Westrays erkalteten Kiefer ab. Die Starre hatte dort noch nicht eingesetzt, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis es so weit war. Vorsichtig schälte sie den Leichnam aus dem Oberteil, das sich aufknöpfen ließ. Danach das dünne Hemd, das sich über dem Korsett befand. Sie öffnete Letzteres, legte es beiseite und zog dem Leichnam auch die darunter liegende Chemise aus zarter Baumwolle aus. Für diese erste Untersuchung zudem die Röcke abzustreifen, war zum jetzigen Zeitpunkt wohl nicht gegeben. Das konnten später die Mitarbeiter des Leichenschauhauses übernehmen.
Mabel betrachtete den Oberkörper der Toten. Wie sie erwartet hatte, war die Haut blass. Miss Westray hatte keinerlei Narben, nur ein, zwei Muttermale. Auch keine blauen Flecken oder andere Anzeichen von Gewalteinwirkung. An ihren Fingern fanden sich keine jener typischen Abdrücke, die Menschen zeigten, die dauerhaft Ringe trugen. Wie schon am Hals erblickte Mabel auch auf dem Brustkorb jene fleckenförmigen Rötungen und Quaddeln. Ob das als ein Anzeichen für eine Vergiftung zu werten war?
Behutsam öffnete Mabel den Mund der Verstorbenen. Auf der deutlich geschwollenen Zunge klebten die